Neue Planungsgrundlagen ab Herbst 2009
Zum 01.09.2009 tritt eine Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) und der zugehörigen Verwaltungsvorschriften (VwV-StVO) in Kraft, die sich zu einem nicht unwesentlichen Teil auf den Radverkehr bezieht (und außerdem den Schilderwald auf unseren Straßen lichten will). Zwölf Jahre nach der sogenannten „Fahrradnovelle“ der StVO von 1997 und sieben Jahre nach ihrer Ankündigung im Nationalen Radverkehrsplan 2002 – 2012 der Bundesregierung kommt die Novelle nun doch noch. (1)
Sie soll weitere Erleichterungen für den Radverkehr bringen, führt einige Korrekturen aufgrund der Erfahrungen seit 1997 in die VwV-StVO ein und soll laut amtlicher Begründung u.a. eine „Reduzierung der benutzungspflichtigen Radverkehrsanlagen“ bewirken. Interessant für Planer ist neben der größeren Flexibilität, welche die VwV-StVO hinsichtlich der Radverkehrsanlagen künftig bieten, auch das Zusammenspiel mit dem FGSV-Regelwerk. Neu in der VwV-StVO ist u.a. folgender Satz in der Vorschrift „Zu § 2 Straßenbenutzung durch Fahrzeuge“: „Hinsichtlich der Gestaltung von Radverkehrsanlagen wird auf die Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) in der jeweils gültigen Fassung hingewiesen.“
FGSV überarbeitet schrittweise die Regelwerke
Der zuständige FGSV-Arbeitskreis 2.5.1 hatte in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsausschuss 2.5 „Anlagen des Fußgänger- und Radverkehrs“ seit mehreren Jahren eine Neufassung der ERA vorbe-reitet. Im Herbst 2009 soll diese nun erscheinen. Ziel war es, das seit dem Erscheinen der ERA 95 zum Radverkehr gewachsene Wissen, z.B. zu Schutzstreifen (früher „Angebotsstreifen“) und zur Führung im Kreisverkehr, einzuarbeiten, die Inhalte leichter und schneller zugänglich zu machen und die Kompatibilität zu anderen Regelwerken und zur geänderten StVO zu gewährleisten.
Letzteres passt sich ein in den gegenwärtig laufenden Prozess der Überarbeitung der in der FGSV-Hierarchie zuoberst stehenden Regelwerke, den Richtlinien. Mit den „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt)“, Ausgabe 2006, und den „Richtlinien für integrierte Netzgestaltung (RIN)“, Ausgabe 2008, stehen die ersten dieser neuen Richtlinien zur Verfügung. In Vorbereitung sind die „Richtlinien für die Anlage von Landstraßen (RAL)“. Die Überlegung, aus den ERA künftig eine „Richtlinie Radverkehr“ zu machen, wurde fallengelassen, da Richtlinien nicht sektoral, sondern integriert sein, d.h. die Anforderungen aller Verkehrsarten und –mittel thematisieren sollen.
ERA und RASt
Folgerichtig enthalten bereits z.B. die RASt 06 wichtige Aussagen zum Radverkehr. Die in der zweiten Hierarchiestufe, den Empfehlungen, angesiedelten ERA 09 führen diese weiter aus, ergänzen sie und bieten ein Gesamtbild der Radverkehrsplanung von der Netzplanung über den Entwurf bis zum Bau und Betrieb und, neu, der Wirkungskontrolle und Qualitätssicherung. Während die RASt umfassende Entscheidungshilfe beim Komplettumbau ganzer Stadtstraßen unter Berücksichtigung des Radverkehrs geben, thematisieren die ERA auch die nachträgliche Verbesserung der Radverkehrstauglichkeit von Straßen – eine häufige Aufgabe in der kommunalen Praxis. Zur Radverkehrs-wegweisung und zum Fahrradparken gibt es inzwischen eigene Regelwerke der FGSV, daher werden diese in den ERA 09 nicht mehr behandelt.
Neu in den ERA 09
Ist gegenüber den ERA 95 alles neu, müssen die Kommunen komplett umdenken? Wesentliche Entwurfskriterien aus den ERA 95 werden auch in den ERA 09 zu finden sein. Wer sich bislang konsequent an den ERA 95 orientierte, wird mit den ERA 09 gut weiterarbeiten können. Aber es gibt einige interessante Neuerungen, die hier kurz vorgestellt werden sollen.
Die ERA 09 werden eine Orientierung für die auf der Netzebene langfristig zu erreichenden Qualitäten geben. Sie differenzieren dabei anhand der Netzkategorien Radverkehr nach den RIN. Die Qualitätsaussagen betreffen Geschwindigkeiten, Zeitverluste, Beleuchtung, Wegweisung, Netzdichte, Umwegfaktoren, soziale Kontrolle und Winterdienst. Zum Teil werden konkrete Zahlenwerte angegeben, die als Vergleichsmaßstab mit der jeweiligen Planung dienen können. Die Beibehaltung von Radverkehrsverbindungen beim Umbau querender oder begleitender anderer Verkehrswege wird thematisiert.
Die Entwurfsparameter entsprechen denen der RASt. Schon diese orientiert bei den Regelmaßen konsequent darauf, dass Radfahrer und Radfahrerinnen sich überholen können. So beträgt das Regelmaß von baulichen Einrichtungsradwegen 2,00 m zuzüglich seitlicher Sicherheitsabstände. Bei geringem Radverkehr, in den ERA definiert als weniger als 300 Radfahrer pro Stunde, kann dieses Maß auf 1,60 m reduziert werden.
Neu in den ERA, aber bereits in den RASt und auch schon den „Empfehlungen für Fußgängerverkehr-sanlagen (EFA)“, Ausgabe 2002, enthalten, sind verschiedene Ausschlusskriterien für die Gehwegbenutzung durch den Radverkehr. Diese betreffen z.B. Geschäftsstraßen, bestimmte Hauseingänge, Gefälle, aber auch die Zahl der Radfahrer und Fußgänger in Abhängigkeit von der Breite, wobei hier eine Mindestbreite des Seitenraums von 2,50 m nutzbar sein muss.
Angesichts dieser Maße mag sich die Frage stellen, wie in beengten Straßenräumen mit dem Radverkehr umgegangen werden soll. Die ERA 09 tragen der Erkenntnis Rechnung, dass die Sicherheit des Radverkehrs nicht allein von seiner Führungsform, sondern auch von der Ausbildung des Verkehrsweges, z.B. hinsichtlich der Breiten und der Führung an Knotenpunkten, abhängt. Für die Wahl der Führungsform des Radverkehrs sind vor allem die bereits in den ERA 95 dargestellten Kriterien Kraftverkehrsstärke und –geschwindigkeit, Schwerverkehrsstärke, Flächenverfügbarkeit, Parkvorgänge, Anschlussknotenpunkte und Einmündungen sowie die Längsneigung zu betrachten.
In den ERA 09 werden weniger erfahrene Planer stärker als bisher im Auswahlprozess geführt, doch bleiben genügend Spielräume, um örtliche Besonderheiten und Erfahrungen berücksichtigen zu können. Grundlage bei Stadtstraßen ist ein Drei-Schritt-Verfahren: 1) Vorauswahl geeigneter Führungsformen, 2) Prüfung der Realisierbarkeit dieser Führungsformen anhand von Flächenbedarf und Ausschlusskriterien, 3) Vergleich der nach Schritt 2) realisierbaren Führungsformen anhand der oben benannten Kriterien, bei Bedarf mittels eines Punkteschemas.
Die Vorauswahl von Führungsformen in Schritt 1) bezieht sich auf eine Einteilung der Straßen nach Stärke und Geschwindigkeit des Kfz-Verkehrs in vier Belastungsbereiche.
Dem Belastungsbereich I ist die Fahrbahnführung ohne weitere Maßnahmen, dem Belastungsbereich II der Schutzstreifen, der nicht benutzungspflichtige Radweg und die Regelung „Gehweg/Rad frei“ zugeordnet. Den Belastungsbereichen III und IV sind benutzungspflichtige bauliche Radwege und Radfahrstreifen zugeordnet, wobei bei IV ein stärkerer Grund zur Benutzungspflicht besteht. Die Grenzen zwischen den Bereich sind fließend, die ERA 09 thematisieren Gründe für Abweichungen. Wenn sich in einem Belastungsbereich keine Führungsform als realisierbar herausstellt, sollen die Führungsformen der nächst tieferen Klasse untersucht werden.
In der Praxis ist zu erwarten, dass in diesen Fällen der Schutzstreifen (in regelgerechter Ausführung, z.B. hinsichtlich der Abstände zum Parkstreifen) wesentlich häufiger als bisher eingesetzt wird, da die bisher in den VwV-StVO enthaltenen, wissenschaftlich jedoch nicht begründeten oberen Einsatzgrenzen hinsichtlich Kfz-Verkehrsstärke ersatzlos entfallen. Interessant ist auch, dass die ERA 09 für nicht benutzungspflichtige Radwege im Neubau die gleichen Entwurfstandards fordern wie für benutzungspflichtige Radwege.
Den Autoren der ERA 09 ist bewusst, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Fahrbahnführung des Radverkehrs vergleichsweise gering sind. Dies ist erstaunlich, da vermutlich der größte Teil des Radverkehrs auf Fahrbahnen stattfindet. Trotzdem waren diesbezügliche Forschungsanträge bisher nicht erfolgreich. Neue Aussagen der ERA 09 zur Fahrbahnführung beschränken sich daher vor allem auf den Hinweis auf das kritische 6,50-m-Maß. Bei dieser Fahrbahnbreite (also mehr als 6,00 m, aber weniger als 7,00 m), die in den Querschnitten sehr häufig verwendet wird, ist die Gefahr groß, dass Radfahrer zu eng überholt werden, weil Pkw-Fahrer meinen, bei dieser Breite noch innerhalb des Fahrstreifens überholen zu können.
Bei geringeren Fahrbahnbreiten ist dagegen klar, dass der Fahrstreifen gewechselt werden muss, bei größeren ist es nicht nötig. Fahrbahnen von 6,50 m Breite mit Radverkehr sollen daher nur bei relativ geringen Kraftfahrzeugstärken gebaut werden. Dies dürfte für viele Planer ein Novum sein, auch wenn die EAHV 93 schon Hinweise in dieser Richtung enthielten.
Zu den Knotenpunkten auf Stadtstraßen machen die ERA 09 vergleichsweise wenig neue Aussagen. Die Führungsformen des Radverkehrs an Knoten werden in Abhängigkeit von Zufahrts- und Knotentyp systematisiert und Akzeptanzkriterien vermittelt. Der aus Verkehrssicherheitsgründen notwendige Verzicht auf freie Rechtsabbiegefahrbahnen mit Dreiecksinseln ist schon in den RASt 06 deutlich verankert.
An Landstraßen werden künftig die RAL die wesentlichen Aussagen zu den Knotenpunkten enthalten. Hier gibt es die Neuerung, dass an weit abgesetzten Radfahrerfurten (wie sie an Landstraßen häufig gebaut werden) Radfahrer auch im Zuge von Vorfahrtsstraßen Nachrang erhalten sollen, d.h. abbiegende Kfz haben die Vorfahrt. Dies wird auch durch die StVO-Novelle 2009 ermöglicht, die als Maß hier ausdrücklich 5 Meter nennt. Eine fahrbahnnahe Radfahrerfurt, bei welcher für den Radverkehr die Vorfahrtregelung wie für den Kfz-Verkehr gilt, wird jedoch gleichfalls in den ERA 09 und den RAL enthalten sein.
Die ERA 09 werden auch einige kleinere Neuerungen enthalten. Ein typisches Praxisproblem ist das Bemühen gutmeinender Planer, den (selbständigen) Radweg mit Pollern vor dem Befahren durch Autos zu schützen oder Querungsstellen durch Umlaufsperren kenntlich machen zu wollen. Die Folge sind oft zusätzliche Gefahren, z.B. weil am Ende von Radfahrergruppen der Poller nicht erkennbar ist und zu schweren Stürzen führt. Die ERA 09 betonen, dass Poller und Umlaufsperren möglichst nicht eingesetzt werden sollen, nennen Alternativen, enthalten aber auch Entwurfsvorgaben, falls sie doch zum Einsatz kommen.
Neu in der StVO und den Verwaltungsvorschriften
Da die Neuerungen vielfältig, umfangreich und komplex sind, können nur ausgewählte, für Planer besonders interessante Punkte in der Tabelle angerissen werden:
Es ist geplant, mit Förderung des Bundes und der Länder im Rahmen der Fahrradakademie ab Herbst 2009 Einführungsveranstaltungen zur ERA 09 und der hinsichtlich Radverkehr geänderten StVO in den einzelnen Bundesländern anzubieten, näheres unter www.fahrradakademie.de.
Fazit
Die geänderte StVO / VwV-StVO bietet den Kommunen in vieler Hinsicht mehr Handlungsspielraum zur Förderung des Radverkehrs. Bedauerlich ist, dass der ursprüngliche Vorschlag, in den VwV-StVO für benutzungspflichtige Radverkehrsanlagen qualitativ eine Breite zu fordern, die Überholen ermög-licht, zugunsten der bisherigen quantitativen Maße verworfen wurde. Diese Maße sind bei enger Auslegung unter Beachtung der Sicherheitsräume zu gering. Die Richtlinien empfehlen für die Planung größere Breiten. Es lohnt sich daher, sich mit den neuen RASt 06 und den ERA 09 auseinander zu setzen. Planungsrichtlinien können den politischen Willen, nichtmotorisierten Verkehr ernsthaft zu fördern, nicht ersetzen. Aber sie stehen dem auch nicht mehr ernsthaft im Weg, viele Vorbildstädte beweisen es.
Quellennachweise:
(1) vgl. die Drucksachen Nr. 153 und 154/2009 unter www.bundesrat.de
Weitere Informationen:
Dieser Artikel von Michael Haase ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 39/2009, erschienen. Michael Haase ist Verkehrsplaner bei der ISUP GmbH Dresden, beschäftigt sich seit 22 Jahren mit dem Radverkehr und war als Mitglied des FGSV-Arbeitskreises 2.5.1 „Aktuelle Fragen des Radverkehrs“ intensiv in den Entstehungsprozess der ERA 09 eingebunden.
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