Planungsgrundlagen
Richtlinien integrierte Netzgestaltung RIN 2008: Vorstellung der Richtlinie
Neue Regeln zur funktionalen Gliederung der Verkehrsnetze und zur Bewertung der Angebotsqualität
Die Richtlinien für integrierte Netzgestaltung, RIN, Ausgabe 2008 (1) beschreiben wie schon die aus dem Jahr 1988 stammenden Richtlinien für die Anlage von Straßen – Teil: Netzgestaltung, RAS-N die Schritte der funktionalen Gliederung des Verkehrsnetzes und der Qualitätsvorgaben zur Gestaltung von Verkehrsnetzen und Netzelementen und erweitern diese um die Bewertung der verbindungsbezogenen Angebotsqualität und um Qualitätsvorgaben für die Gestaltung von Verknüpfungspunkten. Damit stellen die RIN eine methodische Planungshilfe für die integrierte Verkehrsplanung dar und können Eingang in Bedarfspläne, Verkehrsentwicklungspläne, Einzelverkehrspläne sowie Nahverkehrspläne oder Raumordnungs- und Landesentwicklungsprogramme finden.
Einführung
Die RIN sind in der Systematik der FGSV-Ver-öffentlichungen der „R1-Kategorie“ zugeordnet und haben damit eine hohe Verbindlichkeit. Mit dem Allgemeinen Rundschreiben Nr. 21/ 2008 gibt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die RIN bekannt und bittet sie für den Bereich der Bundesfernstraßen anzuwenden. Im Bereich des Straßenverkehrsnetzes sind die Regeln zur funktionalen Gliede-rung und die Qualitätsvorgaben neu gefasst, klarer strukturiert und so aufgebaut, dass eine optimale Verknüpfung mit den neuen Entwurfs-regelwerken für Autobahnen, Landstraßen und Stadtstraßen gewährleistet ist.
Für den Öffentlichen Verkehr, den Radverkehr und den Fußgängerverkehr wurden neue verbindungsbezogene Gliederungen der Verkehrsnetze und Qualitätsvorgaben in Anlehnung an die Systematik im Bereich des Straßenverkehrsnetzes definiert.
In den RIN werden darüber hinaus relevante Kriterien und die zugehörigen Kenngrößen für die Bewertung der verbindungsbezogenen Angebotsqualitäten dargestellt und Methoden zur Ermittlung der Kennwerte erläutert. Eine Bewer-tung ist notwendig, wenn bei bestehenden Verkehrsnetzen die Qualität der vorhandenen Verbindungen analysiert und dabei festgestellte Mängel lokalisiert werden sollen. Diese Mängel können Anlass für eine Planung von Maßnahmen zur Verbesserung der Angebotsqualitäten sein. Die dargestellten Orientierungswerte können als erster Anhalt für eine Bewertung bestehender Netze dienen. Dabei ist vom zuständigen Entscheidungsträger festzulegen, welche Stufe der Angebotsqualität als akzeptabel und damit letztlich als Zielgröße für Netzkonzepte gelten soll.
Die neuen RIN bieten Planern und Entscheidungsträgern hilfreiche Grundlagen zur Koordination, Kooperation und Funktionsergänzung der einzelnen Verkehrsteilsysteme.
Die Ziele der RIN sind
- die Sicherung der Erreichbarkeit von Metropolregionen und Zentralen Orten,
- die funktionale Gliederung des Verkehrsnetzes,
- die Bewertung der verbindungsbezogenen Angebotsqualität,
- die integrierte Planung aller Verkehrsteilsysteme,
- die Vorgabe abgestufter Qualitäten von Verkehrsnetzen und Netzelementen,
- die Vorgabe von Qualitäten für Verknüpfungspunkte,
- die Definition der Geltungsbereiche von Entwurfsregelwerken und
- die Unterstützung bei Verkehrsplanungsprozessen.
Mit den RIN können bestehende Verkehrsangebote analysiert und bewertet sowie Netzkonzepte für zukünftige Verkehrsangebote entwickelt werden. Diese Arbeitsschritte sind in der Verkehrsplanung als Schwachstellenanalyse und Entwicklung von Maßnahmenkonzepten zu verstehen. Sie finden Eingang in Bedarfspläne des Bundes und der Länder, in kommunale Verkehrsentwicklungspläne, in Einzelverkehrspläne wie Nahverkehrspläne sowie in Raum-ordnungs- und Landesentwicklungsprogramme. Für die gesetzlich verpflichtende Aufstellung von Nahverkehrsplänen bieten die RIN dabei erstmals die Möglichkeit, systematisch einheitliche Netzstrukturen zu schaffen bzw. vorzuhalten.
Funktionale Gliederung des Verkehrsnetzes und Qualitätsvorgaben
Die funktionale Gliederung des Verkehrsnetzes ermöglicht eine Bündelung der Verkehrsströme und damit eine Neuordnung des Netzes, die sich den zukünftigen Rahmenbedingungen (z.B. demographische Entwicklung, etwaige Finanzkrise, notwendige Energieeffizienz) optimal anpasst. Die funktionale Gliederung des Verkehrs-netzes, verbunden mit einer Stärkung des Sys-tems Zentraler Orte, unterstützt die Entwicklung von Siedlungsachsen und Verdichtungsräumen.
Aufgabe der funktionalen Gliederung der Verkehrsnetze ist es, die für Planung, Entwurf und Betrieb der Verkehrsinfrastruktur maßgebenden Verkehrswegekategorien festzulegen. Sie ermöglicht es, einzelne Netzabschnitte abhängig von der Verbindungsbedeutung sowie dem städtebaulichen und natürlichen Umfeld zu ka-tegorisieren und dementsprechend funktionsgerecht zu gestalten. Die Anwendung der funktionalen Gliederung kann dabei zu Neubau-, Umbau- und Ausbauerfordernissen (einschließ-lich Rückbau) führen.
Zentrale Orte
Ausgangspunkt der funktionalen Gliederung bildet das System der Zentralen Orte. Je nach Bedeutung der zentralen Versorgungsfunktionen und der Größe des Versorgungsbereiches / Ausstrahlungsbereiches unterscheiden die RIN Zentren verschiedener Stufen:
- Oberzentren (OZ) als Verwaltungs-, Versorgungs-, Kultur- und Wirtschaftszentren für die höhere spezialisierte Versorgung,
- Mittelzentren (MZ) als Zentren zur Deckung des gehobenen Bedarfs bzw. des selteneren spezialisierten Bedarfs und als Schwerpunkte für Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen sowie
- Grundzentren (GZ) als Zentren der Grundversorgung zur Deckung des täglichen Bedarfs für den jeweiligen Nahbereich.
Das Raumordnungsgesetz (ROG) benennt als eine Leitvorstellung die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräumen. Aus darauf basierenden Vorgaben der MKRO sind konkrete Vorgaben für die Erreichbarkeit Zentraler Orte von den Wohnstandorten aus abgeleitet worden. Dabei wird zwischen dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr differenziert. Das Bild benennt Zielvorgaben für die Erreichbarkeit Zentraler Orte untereinander. Zu beachten ist, dass die Zielgrößen Zu- und Abgangszeiten enthalten. Durch die Einhaltung dieser Zielgrößen soll die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit zentralen Einrichtungen sichergestellt werden.
Das System Zentraler Orte dient als Grundlage zur Festlegung der Verbindungsbedeutung, die ausgedrückt in Verbindungsfunktionsstufen in Luftliniennetzen zusammengestellt werden. Aufbauend auf den Luftliniennetzen werden die Verbindungsfunktionsstufen je Verkehrssystem auf die Verkehrswege übertragen.
Mit einer geeigneten Übertragung der Verbindungsfunktionsstufen in die Verkehrsnetze können auch die Entwicklungsmöglichkeiten eines Verkehrssystems besonders unterstützt werden. Dabei kann die Verbindungsfunktionsstufe einer Verbindung in einem Verkehrssystem gegenüber einem anderen Verkehrssystem aufgewertet oder abgestuft werden. Insofern bieten die RIN an dieser Stelle die Möglichkeit einer „echten“ integrierten Netzgestaltung unter Berücksichtigung von Interdependenzen zwischen den Verkehrsteilsystemen.
Radverkehr
Neu ist in den RIN auch die Vorgabe, dass bei der Zuordnung der Luftlinienverbindungen des Radverkehrs zu Netzabschnitten die Luftlinienverbindungen jeweils zwei verschiedenen Routen zugeordnet werden sollen. Eine der beiden Routen sollte dabei für den Alltagsverkehr möglichst umwegfrei, die andere für den freizeitbezogenen Radverkehr unabhängig vom Straßenverkehr möglichst attraktiv geführt werden
Verbindungsfunktionsstufen
Die Verbindungsfunktionsstufen werden mit Kategorien von Verkehrswegen verknüpft. Im Straßenverkehr werden die Kategoriengruppen nach den Kriterien
- Straßentyp (Autobahn/ Landstraße/ Stadtstraße),
- Lage (außerhalb, im Vorfeld und innerhalb bebauter Gebiete),
- Straßenumfeld (anbaufrei/ angebaut) und
- Stadtstraßenart (Hauptverkehrs-/ Erschließungsstraße
unterschieden. Durch diese neue Definition ist nun eine eindeutigere Differenzierung von Hauptverkehrs- und Erschließungsstraßen sowie von Qualitätsvorgaben für Autobahnen und Landstraßen möglich. Die übrigen Regelwerke nehmen diese Systematik auf, so dass beispielsweise bei der Planung von Landstraßen nicht mehr nach Entwurfsgeschwindigkeiten, sondern nach Entwurfsklassen differenziert wird, die sich unmittelbar aus der Straßenkategorie nach RIN ergeben. Entsprechend der funktionalen Gliederung des Straßennetzes werden die Netze des Öffentlichen Personenverkehrs, des Radverkehrs und des Fußgängerverkehrs in den RIN funktional gegliedert. Dabei wird die Charakteristik der Verkehrswege des Öffentlichen Personenverkehrs im Wesentlichen von der Betriebsform bestimmt, die von der Art des Fahrwegs geprägt wird (siehe nächstes Bild).
Spezielle verbindungsbezogene Qualitätsvorgaben werden in den RIN für die Luftliniengeschwindigkeiten zwischen Zentralen Orten ausgedrückt in Fahrgeschwindigkeiten für die einzelnen Netzabschnitte des Kfz-Verkehrs, des Öffentlichen Verkehrs und des Radverkehrs aufgestellt. Die angestrebten Fahrgeschwindigkeiten bilden Vorgaben für den Ausbauzustand eines Verkehrsweges nach den Entwurfsrichtlinien, insbesondere für die Linienführung, die Querschnittsausbildung, die Knotenpunktgestaltung und die Zielgrößen für die angestrebten Fahrgeschwindigkeiten des Alltagsradverkehrs. Diese beinhalten auch die notwendigen Wartezeiten an Knotenpunkten.
Bewertung der verbindungsbezogenen Anbindungsqualität
Die RIN enthalten erstmals Kriterien und Kenngrößen zur Bewertung der verbindungsbezogenen Angebotsqualität. Allgemein gültige Qualitätsvorgaben für die relevanten Kriterien der Angebotsqualität werden allerdings nicht ausgewiesen, solche fallen letztlich als verkehrspolitische Setzung in die Zuständigkeit der jeweiligen Entscheidungsträger. Die in einem Anhang der RIN dargestellten Orientierungswerte für die Kenngrößen Luftliniengeschwindigkeit, Reisezeitverhältnis, Umwegfaktor und Umsteigehäufigkeit können als erster Anhalt für eine Bewertung bestehender Netze dienen.
Prinzipiell können den berechneten Kenngrößen jeder Verbindung Anhaltswerte gegenüber gestellt werden, wobei diese nach 6 Stufen der Angebotsqualität (SAQ) unterschieden sind. Dieses Vorgehen verbessert durch eine einheitliche Bewertungsskala die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Beurteilungs-gesichtspunkte, macht so die Relevanz der Bewertung deutlich und führt zu einer leichteren und überprüfbareren Abwägung bei den Entscheidungsträgern.
Durch einen Vergleich der berechneten Kenngrößen mit den Anhaltswerten ist es möglich, für einzelne Verkehrssysteme oder Kombinationen von Verkehrssystemen Relationen mit guter und schlechter Angebotsqualität zu erkennen. Diese relationsfeine Bewertung ist Grundlage für eine Mängelanalyse, bei der Ursachen von Mängeln lokalisiert werden. Ziel der Mängelanalyse ist es, Netzelemente zu identifizieren, deren Veränderung für viele, insbesondere mangelhafte Relationen eine bessere Angebotsqualität bewirkt. Die Qualitätsstufen für die Luftliniengeschwindigkeit für eine vergleichende Bewertung zwischen Pkw-Verkehr und Öffentlichem Verkehr ermöglichen in Abhängigkeit von der Luftlinienentfernung eine Einstufung der Qualität von Verbindungen.
Ausblick
Die neuen Regeln für die Netzgestaltung und -bewertung werden sich nach einer Einführungsphase in der Praxis etablieren und bewähren müssen. Gerade im Bereich des Öffentlichen Verkehrs sowie des Radverkehrs wird hiermit Neuland beschritten, so dass zunächst eine Gewöhnung an neue verbindungsbezogene Gliederungen, Bewertungen und Qualitätsvorgaben erfolgen muss. Auch nach Veröffentlichung der RIN werden weitere Aspekte der Netzgestaltung und -bewertung offen bleiben, wissenschaftlich zu hinterfragen und zu erforschen sein. Drei neue Arbeitskreise im Arbeitsausschuss „Netzgestaltung“ widmen sich daher Anwendungsbeispielen der RIN, der Weiterent-wicklung der Methodik sowie weiteren Empfeh-lungen insbesondere zur innerörtlichen Netzgestaltung. Erste Arbeiten zu einer „RIN Güterverkehr“, die in Vertiefung der bisherigen Vorgaben die besonderen Belange des Güterverkehrs berücksichtigen soll.
In Kürze
Die neuen „Richtlinien für integrierte Netzgestaltung“ (RIN, Ausgabe 2008) sind veröffentlicht. Sie bilden die Mutter- oder Dachrichtlinien einer neuen Generation von Regelwerken der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen. Sie ersetzen die aus dem Jahr 1988 stammenden „Richtlinien für die Anlage von Straßen, Teil: Leitfaden für die funktionale Gliederung des Straßennetzes“ (RAS-N) und dehnen sie auf die integrierte Betrachtung aller Verkehrsteilsysteme aus. Die RIN greifen die Ziele der Landesplanung und Raumordnung für die Erreichbarkeit der Zentralen Orte auf und leiten die funktionale Gliederung der Verkehrsnetze aus der zentralörtlichen Gliederung ab. Sie ermöglichen eine verkehrsträgerspezifische und -übergreifende Betrachtung des Verkehrsnetzes und liefern bundesweit einheitliche Verfahren und Standards für Systemanalysen und -vergleiche. Die neuen Regeln zur Bewertung und Gestaltung bieten Planern und Entscheidungsträgern hilfreiche Grundlagen zur Koordination, Kooperation und Funktionsergänzung der einzelnen Verkehrsteilsysteme.
Quellennachweis:
1) Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen: Richtlinien für integrierte Netzgestaltung, RIN, Ausgabe 2008, Köln 2008
Weitere Informationen:
- Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (2005): Raumordnungsbericht 2005, Berichte Band 21. BBR 2005
Dieser Artikel von Prof. Dr. Jürgen Gerlach ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2009, erschienen. Prof. Dr. Jürgen Gerlach ist Professor an der Bergischen Universität Wuppertal Fachbereich Bauingenieurwesen Lehr- und Forschungsgebiet Straßenverkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.
Sicherheitsaudit ESAS02 + MAZS09: Beispiel eines Fußverkehrsaudits
Querungsanlagen im Fußwegenetz
Querungsanlagen für den Fußverkehr werden „normalerweise“ aus der Sicht des „flüssigen“ Individualverkehrs betrachtet und häufig lediglich zusätzlich als punktuelle Hilfestellung für den Bedarf querender Fußgänger eingerichtet. Der FUSS e.V. hat nun für ein immerhin etwa 150 Kilometer langes Fußwegenetz in der Bundeshauptstadt Berlin 400 Querungsstellen untersucht und der Senatsverwaltung Vorschläge für ein Angebot sicherer und komfortabler Wegeabschnitte unterbreitet.
In Berlin entsteht das Wegesystem: „20 grüne Hauptwege“. Mit insgesamt rund 500 Kilometern Spazierwegen, Promenaden, durchgrünten Straßenräumen, Gehwegen, aber auch Fahrbahnquerungen ist dieses Projekt in seiner flächenmäßigen Ausdehnung und Netzdichte in Deutschland einmalig. Es wurde im Rahmen des Landschaftsprogrammes des Senats für Stadtentwicklung 1994 vom Senat und dem Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen und wird seit 2003 von einer breiten Basis von Bürgern und Verbänden unterstützt. Etwa 150 Flaneurinnen und Flaneure des Bürgerprojektes „Netzwerk für 20 grüne Hauptwege in Berlin“ (FUSS e.V. und BUND Berlin) haben das Wegenetz analysiert und für bisher noch nicht zugänglichen Abschnitte temporäre Umwege vorgeschlagen. Anfang 2008 erschien erstmals eine Übersichtskarte im piekart-Verlag mit der in den Verwaltungen abgestimmten Wegeführung aller grünen Hauptwege.
Netzschließung
Verkehrssichere und komfortable Straßenquerungen sind eine entscheidende Grundlage für den Erfolg dieses anspruchsvollen Vorhabens, ein Fußwegenetz für die Alltags- und Freizeitmobilität der Bewohner dieser Stadt und ihrer Gäste zu schaffen. Deshalb hat der FUSS e.V. mit Unterstützung durch die Verkehrslenkung Berlin (VLB) der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Querungsanlagen im Verlauf der 20 grünen Hauptwege untersucht und Vorschläge für Verbesserungs-Maßnahmen formuliert. Diese entsprechen den Intentionen des 2003 vom Senat vorgelegten und vom Parlament beschlossenen Stadtentwicklungsplanes Verkehr.
Für etwa ein Drittel des Netzes - das gesamte Innenstadtgebiet und vier „Ausläufer“ in die Himmelsrichtungen - wurde eine Schwachstellen-Analyse „Fußverkehr-Audit“ („Pedestrian Audit“) durchgeführt. Dabei wurde untersucht,
- ob die Querungsanlagen dem aktuellen Regelwerk entsprechen,
- ob sie unter Einbeziehung der örtlichen Verkehrsverhältnisse höchstmögliche Verkehrs-sicherheit bieten,
- attraktiv und komfortabel sind und
- sich im möglichst direkten Wegeverlauf befinden.
Da von einem hohen Anteil mobilitätseingeschränkter Personen ausgegangen wird, hatte die Barrierefreiheit einen hohen Stellenwert.
Maßnahmen sind überschaubar
Obwohl der FUSS e.V. der Stadtverwaltung ein zunehmendes Augenmerk für die Belange des Fußverkehrs bestätigt, offenbarte diese erste Betrachtung von Querungsanlagen in einem Netzzusammenhang zahlreiche Gefahrenstellen und Hindernisse für die Benutzerinnen und Benutzer. Für das Untersuchungsgebiet wurden ca. 500 Empfehlungen für Verbesserungsmaßnahmen formuliert. Davon betreffen allerdings etwa 13 % die Fragestellung, ob nicht allein durch eine Korrektur im Wegeverlauf - und sei es nur der Wechsel der Straßenseite - eine Verbesserung der Bedingungen für Verkehrssicherheit und Komfort erreicht werden kann. Diese Vorschläge sind kostenneutral. Etwa 25 % der Vorschläge beziehen sich auf Markierungen von Fußgängerkaps bzw. Park- und Fahrstreifen, gehören also zu den kostengünstigen und kurzzeitig umsetzbaren Maßnahmen. Unter den aufwändigeren Maßnahmen wurde mit insgesamt 70 Vorschlägen am häufigsten der Bau eines Fußgängerkaps (Gehwegvorstreckung) empfohlen, aber auch Mittelinseln (6), Plateaupflasterungen (4) und Teilaufpflaste-rungen (7). Insgesamt wurde lediglich an 14 Stellen die Anlage eines Fußgängerüberweges und an 17 Stellen die Einrichtung oder eine Erweiterung der Lichtsignalanlage empfohlen.
Wegebegehungen mit mehrfachen Ortsbesichtigungen und Beobachtungen ergaben, dass häufig nicht die Knotenpunkte mit der Querung einer stark befahrenen Straße problematisch waren, sondern Straßen mit mittelstarkem und häufig unangemessen schnellem Kraftfahrzeugverkehr. Als unerwartet gefährlich oder unkomfortabel eingestuft wurden teilweise Straßenabschnitte von geringerer Bedeutung für den Kraftfahrzeugverkehr. Diese Aussagen treffen auf die Innenstadt und auch auf die untersuchten äußeren Bereiche zu. Bei letzteren kommen als Problembereiche Querungen über sogenannte „Ausfallstraßen“ hinzu, die vom Kraftverkehrsaufkommen gar nicht so herausragend stark befahren sein müssen.
Eine erste grobe Kosteneinschätzung für die Gesamtheit der kostenmäßig erfassbaren Maßnahmenvorschläge ergab für das Untersuchungsgebiet einen Bedarf von etwa 1,5 Millionen Euro bzw. einen durchschnittlichen Kosten-faktor von ca. 10.000,- Euro pro Kilometer Wegelänge. Hochgerechnet auf das gesamte Wegesystem würde sich ein Kostenbedarf von ca. 5 Millionen Euro ergeben. Ein zeitlicher Realisierungshorizont könnte a) auf die in der Studie angegebenen Dringlichkeiten von Verbesserungsmaßnahmen für das Gesamtnetz aufbauen, b) durch Schwerpunktsetzung auf einzelne grüne Hauptwege festgelegt oder c) durch eine Kombination dieser beiden Möglichkeiten entwickelt werden. Eine bezirksbezogene Umsetzungsstrategie würde zwar einen Wettbewerbseffekt beinhalten, wäre aber von Einwohnern und Gästen kaum als ein Fußwegeförderungs-Konzept einzuordnen und auch nicht als Stadtmarketing-Konzept darstellbar. Deshalb hat der FUSS e.V. der Senatsverwaltung empfohlen, z.B. zwei der 20 grünen Hauptwege als Modellvorhaben in das Handlungskonzept „Fußverkehr“ im Rahmen des Stadtentwicklungsplanes Verkehr (ab 2009) zu integrieren und dafür einen Innenstadt-Weg und einen Weg vom Stadtkern zur Stadtgrenze auszuwählen.
Fußverkehrsstrategie öffentlich machen
Da Verkehrssicherheitsmaßnahmen für den Fußverkehr in der Regel punktuell erfolgen und somit nicht als Konzept wahrnehmbar und darstellbar sind, hat der FUSS e.V. den auf den ersten Blick waghalsigen Vorschlag unterbreitet, alle Bordsteine im direkten Verlauf der grünen Hauptwege in Berlin mit einer hellgrünen Farbe zu markieren.
In Berlin gibt es ein teilweise überdimensionier-tes Leitsystem für den Kraftfahrzeugverkehr und in den letzten Jahren wurde nun endlich auch ein Orientierungssystem für den Radverkehr geschaffen. Doch geht es um die Frage der Orientierung für den Fußverkehr, kommt immer wieder das Gegenargument, man wolle keinen weiteren „Schilderwald“. Es wäre in der Tat auch ein praktisches Problem, ein städtisches Fußwegenetz mit einer Gesamtlänge von etwa 500 Kilometern eindeutig und halbwegs lückenlos zu markieren. Der Vorschlag unterstützt deshalb die Vorstellung, möglichst nicht noch mehr Schilder im Straßenverkehr aufzustellen. Dagegen soll die nach den Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen RASt 2006 (6.1.8.4 Einfärbung der Bordsteinkanten) vorgeschlagene Hervorhebung der Bordsteine aus Sicherheitsgründen aufgegriffen und systembezogen vorgenommen werden. Durch dieses „liegende Leitsystem“ wären weitere Markierungen und Wegweisungen in der Hauptsache nur noch in größeren Grünanlagen notwendig, um den richtigen Ausgang zu finden und dort wiederum durch das „Bordsteinorientierungssystem“ empfangen zu werden.
Es ist in der Tat so, dass es in Deutschland derzeit nichts Vergleichbares gibt. Insofern wäre dies ein Alleinstellungsmerkmal auch im Rahmen des Berlin-Marketing. Das derartige netz- bzw. linienbezogene Bewerbungs-Methoden Charme haben, zeigen z,B. die Erfolge mit dem „Ostertor-Weg“ in Bremen oder der „Leipziger Notenspur“ (siehe www.fussgaenger-stadtplane.de). Bei ca. 800 notwendigen Bordsteinmarkierungen ergäben sich im Untersuchungsgebiet Kosten von ca. 240.000,- und hochgerechnet für das gesamte Vorhaben von ca. 800.000,- Euro. Damit ließe sich mit einem durchaus verträglichen Aufwand eine enorme Signalwirkung erreichen und eine für das Stadt-marketing herausragende Aussage für „die fußgängerfreundliche Stadt Berlin“ darstellen.
Ein Nachteil der Umsetzung könnte sich daraus ergeben, dass dieser Vorschlag nicht von einer gesondert beauftragten und mit viel Geld bezahlten Marketing-Agentur unterbreitet wurde, sondern im Verlauf einer Netzbetrachtung des verkehrspolitisch orientierten Fachverbandes FUSS e.V. entstanden ist.
Handeln: Über das Wegenetz hinaus
Die 20 grünen Hauptwege sollen ein zusätzliches und attraktives Angebot darstellen und können und sollen nicht den Fußverkehr auf ein straßenferneres Wegenetz bündeln. Die vorliegende Analyse erlaubt allerdings aufgrund der Größenordnung und der Auswahl des Untersuchungsgebietes auch Rückschlüsse auf die Qualität und die Schwachstellen der Querungsanlagen in der gesamten Stadt. Die folgend nur kurz dargestellten fünf latenten Gefahren an Querungsanlagen in Berlin dürften auch in anderen deutschen Städten relevant sein.
1. Sehen und gesehen werden
An den untersuchten Querungsanlagen fehlten in einem erstaunlich hohen Maße Aufstellflächen für die Fußgänger. Das legale Parken im Sichtbereich zwischen den Fußgängern und dem Fahrzeugverkehr durch Parkbuchten direkt neben der Übergangsstelle war ein häufigeres Problem als das illegale Parken in Kreuzungs- und Einmündungsbereichen. Gehwegvorstreckungen entsprechen auffällig häufig nicht dem „Stand der Technik“, d.h. sie sind zu kurz, um den Sichtkontakt zu verbessern.
2. Angemessene Fahrgeschwindigkeiten
Der kurze Wechsel zwischen 50 km/h und geringeren zulässigen Höchstgeschwindigkeiten und ein Straßenausbauzustand für höhere Geschwindigkeiten vermindert eindeutig die Akzeptanz von z.B. Tempo 30-Strecken und -Zonen. Mitunter wurde direkt nach einem Fußgängerüberweg Tempo 30 angeordnet und nicht vor der Querungsanlage.
3. Angemessene Querungszeiten für Fußgänger
Die richtliniengemäßen Einsatzbereiche der verschiedenen Querungsanlagen verführten häufig dazu, z.B. Gehwegvorstreckungen als Querungshilfe auch dann einzurichten, wenn es zu bestimmten Verkehrszeiten keine Lücken im Verkehrsstrom gibt, die ein nichtbevorrechtigtes Queren der Straße überhaupt erst ermöglichen.
4. Fußgängerfreundlichere Signalisierung
Obwohl die Schaltungen von Lichtsignalanlagen nicht zum Gegenstand der Untersuchung gehörten, wurden zahlreiche Ampelanlagen registriert, bei denen eine Querung der Straße nicht in einem Zuge möglich ist oder an denen Fußgänger durch Grün auf der Straßenseite hinter einer Mittelinsel „herübergezogen“ werden. Das Hauptproblem waren allerdings unvollständig signalisierte Knotenpunkte.
5. Fußgängerfreundliche Verhaltensweisen unterstützen
Insbesondere in Gebieten mit innerstädtischer Urbanität (Cafés, Restaurants, kleine Geschäfte, etc.) und damit hoher Attraktivität gerade für Fußgänger sind verkehrswidrige, unsoziale und andere Menschen gefährdende Verhaltensweisen geradezu eingebürgert und selbstverständ-lich. In derartigen Kernbereichen muss durch ausreichend häufige Überwachungen verkehrswidriges Halten und Parken weitgehend unterbunden werden.
Eine der Grundlagen der Studie war ein Aussage aus einem Forschungsbericht aus der Schweiz, die in Fragen der Förderung des Fußverkehrs einige Schritte weiter ist: „Die Erfahrung aus der bisherigen Förderpraxis zeigt, dass Einzelmaßnahmen, wie sie in der Regel realisiert werden, zu keiner spürbaren Veränderung des Mobilitätsverhaltens führen. Ein möglicher Ansatz zur signifikanten Erhöhung des Anteils der Wegeetappen des Fuss- und Veloverkehrs liegt darin, im Sinne einer stimmigen Kombination von Einzelmaßnahmen Maßnahmenpakte zu bilden.“
In Kürze
Die Umsetzung und Weiterentwicklung der 20 grünen Hauptwege in Berlin sind erklärtes Ziel der Landesregierung und werden in absehbarer Zukunft ein Herausstellungsmerkmal des Stadtmarketings sein. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn die Qualität der Grün- und Erholungswege und der Verkehrsflächen gleichermaßen schrittweise verbessert werden. Die von FUSS e.V. durchgeführte Schwachstellen-Analyse ist die in Deutschland bisher umfangreichste Untersuchung von Querungsanlagen, die an einem städtischen Wegesystem vorgenommen wurde. Das Ergebnis spricht für die Effizienz des Fußverkehrs: Etwa 5 Millionen Euro würden ausreichen, um das insgesamt 500 Kilometer lange Wegenetz für Fußgänger sicherer, komfortabler und attraktiver zu machen.
Weitere Informationen:
- www.fussverkehrs-audit.de : Vollständige Studie des FUSS e.V.: Querungsanlagen im Verlauf der 20 grünen Hauptwege in Berlin, Januar 2009, 172 Seiten, 53 Fotos, 3 Abb., abrufbar in verschiedenen Versionen, u.a. nach Bezirken sortiert
- www.fuss-ev.de > Themen > Gehwege und Gehwegnetze: Projektinformation des FUSS e.V.
- www.gruene-wege-berlin.de : Projektinformation der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
- www.piekart.de > piekart-Karten: Bestellmöglichkeit für eine Übersichtskarte mit allen grünen Hauptwegen, M. 1:40.000
- www.pharus.eu/shop : Bestellmöglichkeit für den Pharus-Atlas, M.1:17.500 und die Faltpläne Mittlere Ausgabe und Berlin-City, M.1:16.000 sowie Bezirkskarten mit Eintragung der grünen Hauptwege
- www.dein-plan.de : Internetplan mit Eintragung der grünen Hauptwege
- www.svi.ch: Büro für Mobilität AG, LP Ingenieure AG und Masciadri c & d AG, büro für utopien: Überlegungen zu einem Marketingansatz im Fuss- und Veloverkehr, SVI Forschungsbericht
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 14/2009, erschienen.
Einzelhefte von mobilogisch! können Sie in unserem Online-Shop in der Rubrik Zeitschrift bestellen.
Sicherheitsaudit: Kritische Würdigung der Audit-Empfehlung und eine Kritik am Auditoren-Merkblatt
Straßenverkehrs-Sicherheitsaudit nur durch Zertifizierte möglich?
Nachdem im Jahr 2002 von der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e.V. (FGSV) Empfehlungen für die Durchführung von Sicherheitsaudits herausgegeben wurden, folgte nun in diesem Jahr ein Merkblatt zur Ausbildung und Zertifizierung von Sicherheitsauditoren. Damit werden Auditoren verpflichtet, sich zertifizieren zu lassen. Wurde durch diese Ausbildungspläne der Stellenwert der möglicherweise unabhängig von Hochschulabschlüssen entstandenen Qualifikationen betroffener Bürger, von Bürgerinitiativen oder Verbänden vermindert?
Verkehrssicherheitsmaßnahmen an Unfallschwerpunkten
Nach dem „Merkblatt für die Auswertung von Straßenverkehrsunfällen“ der FGSV ergibt sich die Priorität von Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit weitestgehend über die Höhe der Unfallkosten anhand der auf den Unfalltypen-Steckkarten feststellbaren Unfallhäufungsstellen (UHS), - linien (UHL) und in -gebieten (UHG). „Unfallhäufungen mit vergleichsweise geringen Folgen … (UHS-Kat. 1 „leicht“) sollen mit geringen Maßnahmenkosten verbessert werden.“ Nur wenn es darum geht, „Unfälle mit schweren Folgen zu verhüten, die zu großem menschlichen Leid und hohen volkswirtschaftlichen Verlusten führen“, werden „zusätzliche Erhebungen (z.B. Geschwindigkeitsmessungen, Beobachtungen des Verhaltens von Fußgängern)“ als „vertretbar“ bezeichnet. (MAS 2001, 4.6) Die Maßnahmenfindung erfolgt in der Unfallkommission (Vertreter der Straßenverkehrs-, der Baubehörden und der Polizei), die verpflichtet ist, sich verwaltungsintern aber auch durch Öffentlichkeitsarbeit (MAS 2001, 5.1 (3)) „für die Beseitigung von Unfallhäufungen einzusetzen.“
Zwei der wesentlichen Herausforderungen dieser Methode sind die häufig nicht konkret genug definierten Ursachen eines Unfalles bei der Ersterfassung durch die Polizei, sowie die Aufgabe, aus dem „Zusammentreffen mehrerer Ursachen“ nachträglich „einen unfallbegünstigenden Umstand im Verkehrsraum zu isolieren, zu beschreiben und dann auch abzustellen“ (MAS 2001, 4.1).
Verkehrssicherheitsmaßnahmen vor einem Unfall
Die Konzentration auf bereits geschehene Unfälle und der weitgehende Ausschluss Betroffener bei der Verkehrssicherheitsarbeit führten dazu, dass UMKEHR e.V. und die damalige Fußgängerinitiative Berlin vor etwa 30 Jahren zeitlich kurze Situationserfassungen auf Gehwegen oder an Knotenpunkten aus der Sicht der Fußgänger durchführten (z.B. „BLITZ-licht“, „Ampel-TESTER“). Solche Beobachtungen wurden mit unterschiedlichen Bezeichnungen von örtlichen Fuß- und Radinitiativen durchgeführt, ein aktuelles Beispiel sind die „Mängeltouren“ des Arbeitskreises Fußverkehr Kiel. Hier werden in regelmäßigen Abständen von Vertretern der Verbände Besichtigungs-Touren für eine „Schwachstellen-Analyse“ festgelegt, an denen auch Vertreter des Amtes, der Stadtverordnetenversammlungs-Fraktionen, der Polizei, der Schulwegkommission, etc. teilnehmen. Die Ergebnisse sind Grundlage für zukünftige Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und der Qualität des Wegenetzes. In der Schweiz wird diese Methode als „Augenschein Fussverkehr“ und in Großbritannien und Skandinavien als „Pedestrian Audit“ bezeichnet.
Verkehrswissenschaftler und Planer haben vergleichbare Formen zu einem anerkannten Analyse- und Bewertungs-Instrumentarium entwickelt. In Deutschland bieten seit 2002 die „Empfehlungen für das Sicherheitsaudit an Straßen (ESAS 2002)“
das Handwerkszeug für eine Abfrage der Situation bezüglich der Verkehrssicherheit; weniger allerdings der Akzeptanz und nicht des Annehmlichkeit von Querungsanlagen. Im Gegensatz zur Auswertung von Straßenverkehrsunfällen werden in ihr Vor-Ort-Beobachtungen und Mängelerfassungen mit Hilfe von Fragestellungen und Checklisten in den Vordergrund gerückt. Mit dieser Audit-Empfehlung ist ein zweiter Weg der Verkehrssicherheitsarbeit entwickelt worden, der auf („Verhältnis“-)Prävention setzt. Kritisch ist anzumerken, dass „eine weitergehende Auditierung bestehender Straßen – wie im Ausland vielfach praktiziert - … nicht vorgeschlagen (wird), da deren Verkehrssicherheit in Deutschland bereits Gegenstand der Verkehrsschauen und der örtlichen Unfalluntersuchung ist.“ (ESAS 3.)
Verkehrssicherheitsarbeit nur mit Hochschulabschluss?
Mit der nun erfolgten Veröffentlichung des „Merkblattes für die Ausbildung und Zertifizierung der Sicherheitsauditoren von Straßen (MAZS)“ wird deutlich gemacht, dass man an die „Mitwirkenden“ eine sehr wissenschaftliche Messlatte anlegt. Wer ein „abgeschlossenes einschlägiges Hochschulstudium“ nachweisen kann, sollte für diese Zusatzausbildung z.B. für den Bereich Stadtverkehr (Module: Grundlagen, Hauptverkehrs- und Erschließungsstraßen) einige Wochen einplanen. Dabei geht es über viele Tage um z.B. Unfallschwerpunkte (siehe oben); in 45 Minuten werden die allgemeinen Grundlagen zum Sicherheitsaudit vermittelt und für Ortsbesichtigungen sind 120 Minuten vorgesehen. Über dieses Curriculum ist ganz sicher in der Arbeitsgruppe diskutiert und gestritten worden, das soll hier nicht vertieft werden. Anhand der Ausbildungspläne ist ohnehin nicht erkennbar, ob es z.B. zu einer kritischen Hinterfragung der polizeilichen Unfallerfassung kommt oder lediglich die Anwendung der Richtlinien geübt wird (3 Tage).
Ungewöhnlich ist, dass mit diesem Merkblatt der FGSV personenbezogene Angaben verknüpft wurden, wer Ausbilder und wer zertifizierte Auditoren sind. Eine telefonische Anfrage bei der zuständigen Bundesanstalt für Straßenwesen BASt (3.11.2009) ergab, dass z.B. der FUSS e.V. nicht in die ins Internet gestellte Auditorenliste aufgenommen wird, weil ein Verein nicht zertifiziert sein kann und der Autor nicht, weil er eben (noch) nicht zertifiziert ist. Der Autor fragte nach, wie es denn geschehen konnte, dass in der Liste Menschen „Auditor seit 2001“ sind, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Empfehlungen (ESAS 2002) gab und die insgesamt 159 Personen auf der Liste mit Stand September 2009 wahrscheinlich alle bereits zertifizierte Auditoren waren, bevor das Ausbildungsprogramm veröffentlich wurde (Juli 2009): Das Programm wurde kontinuierlich weiterentwickelt und in der „Übergangsphase“ wollte man darstellen, wer in Deutschland qualifiziert ist und in die Liste aufgenommen werden wollte. Es ist eine Art „Kontaktliste“. Ab jetzt werden die fünf von der BASt genannten „Ausbilder“ beurteilen, wer neu aufgenommen werden kann oder wer möglicherweise von der Liste gestrichen wird. Um Auditor bleiben zu können, muss man mindestens im Jahr ein Audit durchführen, so es einen Auftrag gibt und wenn nicht, zumindest ein „Übungsaudit“ von einem Ausbilder bestätigt bekommen. In drei Jahren sind mindestens zwei Weiterbildungsveranstaltungen zu besuchen. Wenn das streng gehandhabt wird, könnte es aufgrund der bisher noch dünnen Auftragslage möglicherweise bald eine kürzere Auditorenliste geben.
Es hat natürlich eine fachliche Logik, wenn vier der fünf zugelassenen Ausbilder gleichzeitig in der ersten Reihe der Mitarbeiter der Erstellung des Merkblattes genannt werden, in der sie sich selbst die alleinige Entscheidungsbefugnisse zugestehen. Da der Vorgang aber durch die Bundesanstalt für Straßenwesen einen staatlichen Bezug hat und die gesamte Prozedur ja auch wirtschaftliche Aspekte und Interessen aufweist, macht dieses Verfahren dennoch nachdenklich. Immerhin könnte sich hier ein größerer Markt auftun, wenn das “harmonisierte System für die Handhabung von … Verkehrssicherheitsaudits“ nach dem „Aktionsplan für die Straßenverkehrssicherheit (2003-2010)“ der EU-Kommission umgesetzt und in das deutsche Recht verankert wird.
Fazit
Neben der Methode, mit Verkehrssicherheitsmaßnahmen an örtlichen Unfallschwerpunkten anzusetzen (Stichwort: Unfallkommission), haben sich in den letzten Jahren auch in Deutschland Schwachstellenanalysen und Konfliktbeobachtungen vor einem Unfall (Stichwort: Sicherheitsaudit) in der Verkehrssicherheitsarbeit etabliert. Die Audit-Empfehlungen sind bei einigen Mängeln ein wesentlicher Schritt nach vorn. Die Möglichkeit der Qualifizierung des „Personals“ ist für beide Methoden begrüßenswert. Die im Zertifizierungs-Merkblatt vorgegebenen Ausbildungspläne betonen allerdings eher den Übungs-Charakter und haben Hochschulambiente. Betroffene und Betroffenen-Verbände sollten Ihre teilweise über Jahrzehnte aufgebauten Qualifikationen weiterhin einbringen und auch mithilfe der Qualifizierungs-Empfehlungen weiterentwickeln. Sie sollten Verkehrssicherheits- und auch Komfort-Audits insbesondere für einzelne Verkehrsteilnehmergruppen (Fuß, Rad, ÖV) durchführen und darauf aufbauend der Öffentlichkeit, Politikern und Verwaltungen Maßnahmenvorschläge unterbreiten. Wenn sie wollen, können sie sich auch „Auditoren“ nennen, denn das ist ja kein geschützter Berufstitel und kann sogar im Ehrenamt ausgeführt werden. Verkehrssicherheitsarbeit ist auch Bürgerpflicht.
Quellennachweise:
- Merkblatt für die Auswertung von Straßenverkehrsunfällen, Teil 1: Führen und Auswerten von Unfalltypen-Steckkarten, Ausgabe 2003, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.), Köln
- Merkblatt für die Auswertung von Straßenverkehrsunfällen, Teil 2: Maßnahmen gegen Unfallhäufungen, Ausgabe 2001, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.), Köln
- Empfehlungen für das Sicherheitsaudit von Straßen ESAS, Ausgabe 2002, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.), Köln
- Merkblatt für die Ausbildung und Zertifizierung der Sicherheitsauditoren von Straßen MAZS, Ausgabe Juli 2009, Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.), Köln
Die im Merkblatt angegebene Internetadresse für die Liste der „anerkannten Ausbildungsstellen“ und die „Auditorenliste“ stimmte schon zwei Monate später nicht mehr. Am 14.12.2009 konnte man die Listen folgendermaßen erreichen: http://www.bast.de/DE/Home/home_node.html
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 4/2009, erschienen.
In mobilogisch!, Heft 1/10 wurde in der Rubrik "Nachtrag" folgende ebenfalls von Bernd Herzog-Schlagk verfaßte kritische Auseinandersetzung mit dem Beitrag abgedruckt:
Zertifizierte Verkehrsicherheits-Auditoren
Der Beitrag „Straßenverkehrs-Sicherheitsaudit nur durch Zertifizierte möglich?“ in der ml 4/09 S.42-44 enthält nach Auffassung von Univ.-Prof.Dr.-Ing. Jürgen Gerlach aus Wuppertal, einer der Verfasser des „Merkblattes für die Ausbildung und Zertifizierung der Sicherheitsauditoren von Straßen“ und anerkannter Ausbilder für Verkehrssicherheitsauditoren in Deutschland „zahlreiche Fehlinformationen“, die er uns bat, richtig zu stellen. „In dem Beitrag wird das Audit von Neubau-, Ausbau- und Umbaumaßnahmen mit der Inspektion von bestehenden Situationen verwechselt. Das Sicherheitsaudit von Straßen dient der Identifizierung von Sicherheitsdefiziten in Planungen. Mit der ESAS und dem MAZS wird eine Qualitätssicherung dieser komplexen Aufgabe angestrebt.“ Ich bitte als Autor um Entschuldigung, wenn dieser Eindruck entstehen konnte. Möglicherweise hätte die Kritik an der Richtlinie, dass „eine weitergehende Auditierung bestehender Straßen – wie im Ausland vielfach praktiziert - … nicht vorgeschlagen (wird).“, wirklich noch deutlicher herausgearbeitet werden müssen.
Im Artikel wird die Qualifizierung begrüßt, dennoch möchte ich noch einmal hervorheben, dass nach unserer Auffassung Verkehrssicherheits-Audits in einem Planungsverfahren für Straßenneubauten eine sehr intensive Ausbildung erforderlich machen. Insofern war die Überschrift des Artikels provokant gemeint aber evtl. irreführend. Planungen für Neu-, Aus- und Umbauten sind aus unserer Sicht die „Stecknadel im Heuhaufen“ und deshalb bleiben wir dabei, dass im Sinne einer umfassenden Verhältnisprävention auch gerade im vorhandenen Straßennetz z.B. „Fußverkehrs-Audits“ durchgeführt werden müssen und diese auch so genannt werden können.
Als Autor möchte ich zu den verwendeten Begriffen hinzufügen: Das Wort „Audit [lat./engl.] – (unverhofft durchgeführte) Überprüfung, Untersuchung, Prüfung“ ist kein geschützter und auch kein durch das Patentamt zu schützendes Wort. „Auditor“ ist eigentlich eine sehr alte Berufsbezeichnung im juristischen Bereich, sie ist in der aktuellen Liste der „normierten Berufsbezeichnungen“ nicht enthalten und beschreibt im heutigen Sprachsinn insbesondere eine Person, die ein Audit durchführt. Allerdings gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Qualität z.B. einen Titel „DSQ-Auditor Qualität nach DSG-Richtlinien“. Im Gegensatz zum Beitrag würde ich nunmehr von der Verwendung des „nackten“ Begriffes „Auditor“ abraten, auch weil er z.B. von Scientology verwendet wird für Menschen, die ein sogenanntes „Auditing“ durchführen. Selbstverständlich kann man sich nicht als „zertifizierte/r Verkehrssicherheits-Auditor/in“ bezeichnen, wenn man/frau keine/r ist.
Weitere Informationen:
Der FUSS e.V. führt in Berlin das wohl bisher umfangreichste Fußverkehrs-Audit im Zusammenhang mit einer Netzplanung durch (vgl. mobilogisch! 1/09). Anfang 2010 werden etwa 900 Querungsstellen analysiert und erste Maßnahmenvorschläge formuliert sein. Einen Zwischenbericht mit Stand Ende 2008 finden Sie unter: www.fussverkehrs-audit.de
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