Planungsgrundlagen
Richtlinien Stadtstraßen 2006: Kurze Vorstellung der Richtlinien
„Mir ist eine Straße ohne Autos lieber als eine Straße ohne Fußgänger“. Dieser Ausspruch stammt nicht etwa von einem Repräsentanten von FUSS e.V., sondern von einem der Referenten bei einem Kolloquium in Kassel am 5. Juni 2007, wo 500 Verkehrsfachleuten das neueste Regelwerk der Forschun gsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) vorgestellt wurde.
Neue Generation von Regelwerken
Die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen RASt 06 sind das erste Regelwerk einer neuen Generation von drei Straßenbau-Regelwerken der FGSV. Die beiden anderen sind die RAA (Richtlinien für die Anlage von Autobahnen) und die RAL (Richtlinien für die Anlage von Landstraßen), die voraussichtlich Ende 2007 bzw. Anfang 2008 erscheinen werden.
Wie Innerortsstraßen zu bauen sind, stand bisher in den EAE 85/95 (Empfehlungen für die Anlage von Erschließungsstraßen) und den EAHV 93 (Empfehlungen für die Anlage von Hauptverkehrsstraßen). EAE und EAHV werden durch die RASt ersetzt, die eines der wichtigsten FGSV-Regelwerke ist, denn sie decken weit über die Hälfte aller Verkehrsflächen ab.
EAE und EAHV konnten bereits als progressiv bezeichnet werden. Die RASt gehen noch einen Schritt weiter und enthalten Formulierungen, wie man sie eher aus der Ecke der Verkehrsbürgerinitiativen und Umweltverbände erwarten würde. Beispiel: „Dabei wird es vielfach ... notwendig sein, die Menge oder zumindest die Ansprüche des motorisierten Individualverkehrs an Geschwindigkeit und Komfort zu reduzieren.“
In den RASt steht, dass man bei Platzknappheit zwischen der Bebauung nicht etwa die Gehwege schmaler machen soll, wie es allgemein üblich ist, sondern die Fahrgasse einengen.
Verkehrsberuhigung auch für Hauptverkehrsstraßen
In den RASt gibt es ein umfangreiches Kapitel über Geschwindigkeitsdämpfung mit Abschnit-ten nicht nur für Erschließungsstraßen (Tempo-30-Straßen) sondern auch für Ortsdurchfahrten und städtische Hauptverkehrsstraßen (Tempo-50-Straßen). Das ist eine Sensation. Zwar veröffentlichte 1986 das BM Bau (Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau) die grüne Illustrierte „Stadtverkehr im Wan-del“, in der das Gedankengut der Verkehrsberuhigung auf allen Innerortsstraßen ausführlich dargestellt ist. Offensichtlich hatten sich im BM Bau progressive Kräfte durchgesetzt. Die „grüne“ Illustrierte musste dann jedoch auf Betreiben der Interessenvertreter des schnellen Autoverkehrs eingestampft werden. Außerdem distanzierte sich eine Gruppe von neun namhaften Hochschulprofessoren von „Stadtverkehr im Wandel“ und äußerte die Meinung, es müsse Stadtstraßen geben, die nicht primär der Aufenthaltsfunktion dienen können, sondern die Verbindungsfunktionen mit entsprechenden Geschwindigkeiten haben. Und so ist es ja auch nach wie vor. Die Illustrierte ist jetzt im Internet einzusehen: www.verkehrsplanung.de/StadtverkehrimWandel/index.html.
Als wirksame Elemente zur Geschwindigkeitsdämpfung wurden unter anderem die Plateau-pflasterungen und die Teilaufpflasterungen in die RASt aufgenommen. Diese Elemente wurden aus den Empfehlungen Nr. 6 von 1986 der damaligen Beratungsstelle für Schadenverhütung des Verbands der Autoversicherer übernommen, wo sie wenig beachtet wurden und nur selten oder so falsch realisiert wurden, dass der Gedanke der Geschwindigkeitsdämpfung manchmal in Misskredit geriet.
Fuß- und Radverkehr, Kreisel, ÖPNV, Vorfeld-Straßen
In den RASt sind die Entwurfselemente der Straßenraumgestaltung so beschrieben, dass auch interessierte Laien damit zurecht kommen können. Beispielsweise sind die Einsatzgrenzen von Buskaps, die ein einfaches Mittel sind, um den Busverkehr schneller und den Autoverkehr langsamer zu machen, angegeben.
Für den vollständigen Straßenraumentwurf benötigt man außer den RASt noch die EFA und die ERA (Empfehlungen für Fuß- bzw. Radverkehrsanlagen) und mehrere anderer FGSV-Regelwerke (www.fgsv-verlag.de). Kreisverkehre sind in dem ADAC- Leitfaden „Der Kreisverkehr“ beschrieben, der billiger (12,50 Euro) als das inhaltlich fast gleiche FGSV-Merkblatt ist. Im Gegensatz zu den EAHV decken die RASt auch die nicht angebauten Straßen im „Vorfeld“ ab. Das sind Straßen, auf denen typisch Tempo 70 angeordnet ist.
Menschgerechtere Straßen
Würden die RASt konsequent umgesetzt werden, könnten zehntausende Hektar Straßenfläche der Natur zurückgegeben oder für die langsamen Verkehrsteilnehmer, den ÖPNV oder anderen Nutzungen umgewidmet werden.
Das Hindernis für die Anwendung der RASt sind die weniger progressiv denkenden Mitarbeiter-Innen in den kommunalen Ämtern, die ihre Auf-gabe darin sehen, den Autoverkehr flüssig, das heißt schnell, zu machen und so viel Flächen wie möglich zu Straßenflächen zu machen.
Mit den RASt, die den Stand der Straßenbautechnik darstellen und damit zum Beispiel vor Gericht anerkannt werden, ist den Verkehrsbürgerinitiativen und Umweltverbänden ein Instrument in die Hand gegeben, um sich besser gegen überzogenen Straßenbau und für den Rückbau und die Entschleunigung von Ortsdurchfahrten und anderen überdimensionierten Straßen einsetzen zu können.
Quellennachweis:
- Die RASt 06 (FGSV Nr. 200) können zum Preis von 51,60 Euro beim www.fgsv-verlag.de bestellt werden.
Dieser Artikel von Rudolf Pfleiderer ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen.
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Hinweise Systemkosten Busbahn und Straßenbahn 2008: Kritische Auseinandersetzung
Busbahn oder Straßenbahn?
Im Jahre 2008 gab die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen eine neue Planungshilfe mit dem etwas seltsamen Titel „Hinweise zu Systemkosten von Busbahn und Straßenbahn bei Neueinführung“ heraus. Das Papier wurde vom „Arbeitskreis Bussysteme hoher Kapazität“ unter der Federführung von Dr.-Ing. Volker Deutsch, Bergische Universität Wuppertal, erarbeitet (1).
Hinter dem Titel verbirgt sich ein Vergleich der Einführungs- und der jährlichen Betriebskosten von Straßenbahn und Bus. Dabei wird unter „Bus“ kein Verkehrsmittel im herkömmlichen Sinne verstanden, sondern ein in betrieblicher Hinsicht der Straßenbahn ähnliches Verkehrssystem mit dieselbetriebenen Großraumbussen, welches auf einer vom Autoverkehr unabhängigen Eigentrasse (Bahn) geführt wird und daher in Bezug auf Fahrgeschwindigkeit und Störungsfreiheit einem modernen Straßenbahn-system vergleichbar ist. Derartige Busbahnsys-teme wurden in Europa bisher nur in geringer Zahl realisiert (z. B. Eindhoven, Rouen, Nantes).
Die Verfasser legen ihrem Vergleich das fiktive Fallbeispiel eines 20 km langen Netzes mit zwei Durchmesserlinien, die durchgängig auf einer Eigentrasse (besonderer Bahnkörper) verkehren, zugrunde. Es kommen 25 Meter lange Doppelgelenkbusse bzw. 28 Meter lange Niederflurtriebwagen gleicher Kapazität zum Einsatz, so dass sich beide Systeme in Bezug auf die Bedienungshäufigkeit und damit Fahrzeug-anzahl und Fahrpersonalkosten nicht unterscheiden. Berechnet und verglichen werden nun die Investitionen in den Bau der Trasse inkl. Betriebshof und die Beschaffung der Fahrzeuge sowie die Kosten des laufenden Betriebs (Energie, Instandhaltung, Personal).
Der Systemvergleich wird sehr detailliert und gut nachvollziehbar dargelegt. So kann der Leser selbst ermitteln, wie sich Veränderungen in den Ausgangsgrößen, beispielsweise beim Diesel- oder beim Strompreis, auf das Ergebnis auswirken. Durch zahlreiche Farbabbildungen wird eine hohe Anschaulichkeit erreicht.
Die Verfasser kommen zu dem Schluss, dass das System Busbahn der Straßenbahn aus betriebswirtschaftlicher Sicht eindeutig überlegen ist. Der Investitionsaufwand liegt bei 60%, die jährlichen Vollkosten der Betriebsführung (also variable und fixe Kosten) bei zwei Drittel dessen, was für ein Straßenbahnsystem aufzuwen-den ist.
Vergleich stimmig?
Es ist zunächst einmal nicht überraschend, dass eine Straßenbahn bei gleicher Fahrtenhäufigkeit teurer ist als ein Bus, und sei es auch ein XXL-Bus mit Eigentrasse. Es kommt auf die zu bewältigenden Fahrgastzahlen an. Die Verfasser sehen die Aussagekraft des Vergleiches im oberen Bereich der Leistungsfähigkeit des Doppelgelenkbusses und geben diesen mit 2.300 Fahrgästen je Richtung in der Spitzenstunde an (145 Plätze bei 4 Personen je m² Stehfläche x 20 Fahrten je Stunde bei einem 3-Min.-Takt x 80% = 2.320). Lässt sich auf Grund von Störeinflüssen nur ein 4-Min.-Takt verwirklichen (ansonsten Gefahr von Pulkbildungen), sinkt der Wert auf 1.700 Fahrgäste.
Nachfragebündelungen dieser Größenordnung werden normalerweise nur in Großstädten mit über 500.000 Einwohnern erreicht. In dieser Kategorie gibt es in Deutschland 15 Städte, von denen nur eine - Hamburg - derzeit (noch) straßenbahnfrei ist. Den Westteil Berlins kann man getrost hinzuzählen. Allerdings werden in beiden Städten die Haupttrassen durch leis-tungsfähige S- und U-Bahnen bedient. Selbst die Hamburger MetroBuslinie 5, auf der Doppelgelenkbusse im 5-min-Takt unterwegs sind, erreicht „nur“ 1.700 Fahrgäste am höchstbelegten Querschnitt. Man stellt sich unwillkürlich die Frage, ob es dann in Deutschland überhaupt noch Anwendungsfälle für die Straßenbahn gibt, wenn selbst die vielleicht stärkste Buslinie hierzulande die Messlatte reißt.
Einwände
Allerdings sind die Annahmen der Verfasser kritisch zu hinterfragen. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) empfiehlt, die Kapazität eines Fahrzeugs im Mittel aller Fahrten der Spitzenstunde in Lastrichtung nur zu 65% auszunutzen. Damit soll einerseits der Komfortanspruch der Fahrgäste berücksichtigt und andererseits der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das Fahrgastaufkommen auch innerhalb der Spitzenstunde Schwankungen unterliegt. Die Erfahrungen zeigen, dass sich oberhalb von 65% deutliche Überfüllungstendenzen mit allen negativen Begleiterscheinungen (lange Haltezeiten, Pulkbildung etc.) bemerkbar machen. Die 80%-Annahme der Verfasser ist demzufolge praxisfremd. Legt man die VDV-Empfehlung zugrunde, schafft der Doppelgelenkbus je nach Takt „nur“ 1.400 bis 1.900 Fahrgäste je Stunde. Aber selbst dies ist eine hohe Messlatte für die Straßenbahn (2).
Der Systemvorteil der Straßenbahn, durch längere Zugeinheiten mit weniger Fahrten auszukommen und dadurch Personalkosten zu sparen, wurde von den Verfassern berücksichtigt. Selbst in diesem Fall liegt das System Busbahn noch vorn, wobei der Abstand zur Straßenbahn bei den Betriebskosten von einem Drittel auf ein Viertel schmilzt. Die größere Fahrtenhäufigkeit des Busses kann man aus Fahrgastsicht zunächst einmal als Vorteil werten. In der Praxis würden solche dichten Takte jedoch daran scheitern, dass die Zugfolgezeiten in den zentralen Bereichen, wo sich mehrere Linien überlagern, nicht mehr beherrschbar sind. Hier verkehrt sich der Nachteil des Systems Straßenbahn in einen Vorteil.
Zwei weitere Annahmen des Vergleiches sind zu hinterfragen: die jährliche Fahrleistung sowie der Dieselpreis. Die Verfasser geben die Jahresfahrleistung je Fahrzeug mit 60.000 km an, während sie in großstädtischen Verkehrssys-temen in Wahrheit deutlich höher (meist oberhalb von 80.000 km) liegt. Diese Unterschätzung verzerrt das Endergebnis zugunsten des Busses, da somit auch die variablen Kosten (Energieverbrauch, Instandhaltung) unterschätzt werden - der einzige Kostenblock, bei dem die Straßenbahn besser abschneidet als der Bus.
Ebenso fragwürdig ist die Annahme zum Dieselpreis, der mit 1,00 Euro je Liter angesetzt wurde. Auch wenn Verkehrsunternehmen als Großabnehmer Rabatte von 5 bis 10% aushandeln können, sind solche Größenordnungen auf lange Sicht unrealistisch. Bügelt man diese Ungereimtheiten aus, schmilzt der Abstand zwischen Bus und Straßenbahn auf 10-15%.
Nicht betrachtet wurde die Erlösseite, d. h. es wurde das gleiche Nachfragepotenzial für beide Systeme angenommen. Schienen und Fahrleitung erzeugen aber als sichtbare Elemente des Systems ÖPNV eine Art Leistungsversprechen („Hier kommt bestimmt bald was vorbei!“), was sich in dem bekannten Schienenbonus und damit in höheren Fahrgastzahlen eines Straßenbahnsystems unter sonst gleichen Bedingungen äußert. Selbst bei einem O-Bus lässt sich ein solcher Bonus gegenüber herkömmlichen Dieselbussen allein durch die Sichtbarkeit der Fahrleitung (Fachbegriff: Routenvisibilität) nachweisen.
Die Verfasser des FGSV-Papiers vermuten, dass ein Busbahnsystem durch seine sichtbare Eigentrasse ebenfalls geeignet sei, einen solchen Bonus zu erzeugen. Einen überzeugenden Beweis müssen sie auf Grund zu weniger Anwen-dungsfälle allerdings schuldig bleiben. Gleiches gilt für sekundäre Nutzen wie z. B. Immobilienwertsteigerungen im Umfeld der neuen Trasse. Immerhin konnte der 2006 eröffnete BusWay im westfranzösischen Nantes selbst die Fahrgast-prognosen für eine ursprünglich dort geplante Straßenbahnlinie übertreffen, was aber nicht heißt, dass die Erfolgsgeschichte mit der Straßenbahn nicht noch glänzender ausgefallen wäre.
Weiche Faktoren werden am Rande erwähnt aber nicht bewertet, wie z. B. die Möglichkeit der ästhetischen und ökologischen Gestaltung von Straßenbahntrassen mit Rasengleis, die in gleicher Weise mit der Asphalt- oder Betonpiste einer Bustrasse nicht möglich ist. Ein Bussystem benötige dafür keine Fahrleitung, halten die Verfasser dagegen. Dies muss jedoch keinen ästhetischen Nachteil der Straßenbahn begrün-den, denn auch eine Fahrleitungsanlage inklusive der Masten kann sich harmonisch in das Gestaltungskonzept einer Trasse einfügen.
Schließlich ist anzumerken, dass der Kostenvergleich - wie schon der Titel besagt - nur für die Neueinrichtung solcher Systeme aussagekräftig ist. Damit dürften die praktischen Anwendungsfälle in Deutschland mit seinen ca. 60 Straßenbahnbetrieben begrenzt sein. Hier stellt sich die Frage nach dem passenden System nicht (mehr). Es geht allenfalls darum, neue Linien einzurichten oder bestehende zu verlängern und somit die bereits investierte Infrastruktur besser auszulasten.
Insgesamt sind die Einschränkungen in der Aussagekraft des Papiers somit doch recht erheblich, denn selbst dort, wo beide Systeme für die Neueinrichtung einer leistungsfähigen ÖPNV-Trasse in Betracht gezogen werden, dürften nur selten die idealtypischen Voraussetzungen des gewählten Fallbeispiels gegeben sein.
In Kürze
Die FGSV hat einen Systemkostenvergleich zwischen Bus und Straßenbahn auf eigener Trasse vorgelegt. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Bus aus betriebswirtschaftlicher Sicht deutlich überlegen ist. Allerdings sind die Grundannah-men des Vergleichs kritisch zu hinterfragen. Eine Tendenz zur Bevorteilung des Busses kann dem Papier nicht abgesprochen werden.
Quellennnachweise:
- FGSV: Hinweise zu Systemkosten von Busbahn und Straßenbahn bei Neueinführung. Köln 2008
- VDV: Verkehrserschließung und Verkehrsangebot im ÖPNV (VDV-Schriften 4). Köln 2001
Weitere Informationen:
- Stefan Göbel: Zwei Jahre BusWay Nantes, in: Stadtverkehr 12/2008, Seite 6-11
Dieser Artikel von Ekkehard Westphal ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2009, erschienen.
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Richtlinien integrierte Netzgestaltung RIN 2008: Kritische Auseinandersetzung mit den Netzgestaltung
Die Richtlinien für integrierte Netzgestaltung: Viel versprechend und von gestern - ein Zwischenruf
Für eine Shared Space-Diskussion taugen die RIN nicht. Denn die Richtlinien für die integrierte Netzgestaltung (RIN – 2008) wurden für den Bereich der Bundesfernstraßen mit dem Allgemeinen Rundschreiben vom 28.10.2008 vom BMVBS bekannt gegeben (siehe den Beitrag von Prof. Dr. Gerlach (1) in mobilogisch! 1/09). Sie ersetzen die aus dem Jahre 1988 stammenden „Richtlinien für die Anlage von Straßen; Teil: Leitfaden für die funktionale Gliederung des Straßennetzes“ (RAS-N). Nachfolgender subjektiver Zwischenruf kommentiert ausgewählte Aspekte dieses Regelwerkes und gibt zu bedenken, dass mit diesen RIN keine Aufforderung zu erkennen ist, vom „weiter so“ in der sektoralen Verkehrsnetzplanung abzuweichen.
Regelwerke „formen“ den Alltagsverkehr
Im Blick zurück produzierte die jetzt abgelöste RAS-N (die sich ausschließlich dem Straßennetz widmete) in Deutschland das dichteste Straßen-netz in Europa. Die RAS-N unterstützte mit ihrer funktionalen Gliederung des Straßennetzes das historisch gewachsene polyzentrale Städtesys-tem und schaffte für den motorisierten Straßenverkehr beste Voraussetzungen für mehr oder minder intensive funktionale Austauschbeziehungen zwischen einzelnen Standorten.
Dieses an sich so „neutrale“ Regelwerk begrün-dete mit der ihr innewohnenden „Lückenschlussphilosophie“ neue Verbindungen, um die Raumerschließung zu verbessern. Die Straßenbauinvestitionen wuchsen, die gefahrenen Geschwindigkeiten erhöhten sich und die allseits gewünschte Raumdurchlässigkeit oder - anders formuliert – der Abbau von Entwicklungshemmnissen führte zu weiteren Wegen bei gleichem Zeitbudget und zu neuen Standortwahlentscheidungen. Der Raum schrumpfte und ermöglichte eine freie Wahl der räumlichen Lage von Wohn- und Wirtschaftstandorten, ohne die Verkehrskosten und Umweltschäden besonders zu beachten. Damit wurde ein raumstrukturelles Angebot geschaffen, das mittels hoher Geschwindigkeiten und Raumdurchlässigkeit das übernächste Zentrum noch attraktiver und preiswert erreichbar erscheinen lassen.
Mit Blick auf die gegenwärtigen Erreichbarkeitsverhältnisse liegen mit Hilfe der Vorgaben der Regelwerke gute Bedingungen im Bundesfernstraßensystem vor. Die Zielgrößen für Erreichbarkeit zentraler Orte mit den Pkw-Reisezeit-Vorgaben der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO, vgl. RIN, S. 11, Tab. 2) sind weitgehend übererfüllt. So können knapp 100% der Bevölkerung das nächste Oberzentrum in Agglomerations- und verstädterten Räumen in einer Pkw-Fahrzeit von weniger als 60 Minuten erreichen und 90% der Bevölkerung in Agglomerationsräumen ermöglicht das Straßennetz außerhalb der Rushhour bereits in 30 Min. das nächste Oberzentrum zu erreichen. Und die Erreichbarkeit zu Autobahnen ist beim heute erreichten Ausbaustand des Bundesfernstraßennetzes im Allgemeinen auf Grund der hohen Netzdichte auch als gut zu beurteilen. Innerhalb von 30 Minuten Pkw-Fahrzeit erreichen bereits über 93 % der Bevölkerung eine Autobahnanschlussstelle. (2)
Integriert und doch sektorale Verkehrsnetzgestaltung
Die RAS-N von 1988 lebte mit dem Vorwurf der ausschließlichen Straßennetzgestaltung. So startete 1994 parallel zur Raumordnungsdiskussion und -forderung nach einer integrierten Raum- und Verkehrsplanung ein FGSV-Arbeits-kreis mit dem Ziel „Richtlinien für integrierte Netzgestaltung (RIN)“ zu entwickeln. Nach über 14 Jahren und intensiven auch widersprüchlichen Diskussionsrunden wurde nun das Werk vorgelegt. In Erweiterung der RAS-N wurden in der RIN über den Bereich der Bundesfernstraßen hinaus Kategoriengruppen der Verkehrswege gebildet (eingebettet in ein neues FGSV-Regelwerkgefüge), in die auch die weiteren Verkehrsträger öffentlicher Verkehr, Fuß- und Rad-verkehr einbezogen wurden. Diese Erweiterung und Qualitätsvorgaben zur Gestaltung von Verkehrsnetzen, Netzabschnitten und Verknüpfungspunkten auf den öffentlichen Personenverkehr, Fuß- und Radverkehr ist ein erster großer Fortschritt dieses Regelwerks.
Erreichbarkeit von Autobahnen
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Raum- und Siedlungsstrukturen mit dem Verkehr in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, finden sich in den RIN auch entsprechende räumliche Leitvorstellungen und die Auflistung von Zielgrößen für Erreichbarkeit wieder.
In aller Kürze werden die RIN dann von den Verfassern als „eine methodische Planungshilfe für die integrierte Verkehrsnetzplanung“ bezeichnet, in der auch relevante Aspekte der Raum- und Umweltplanung einbezogen sind. Diese Beschreibung ist viel versprechend, doch m. E. falsch und irreführend. Denn
- die nebeneinander stehende Behandlung der Verkehrsarten (nur Personen-Kfz-Ver-kehr, ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) lässt keine „integrierte“ Netzbetrachtung erkennen. Konkrete z.B. verkehrsträgerübergreifende Grundsätze und Handlungshinweise sind nicht thematisiert.
- umwelt- und landschaftsbezogene Planungsziele finden keine Berücksichtigung. Auch ist kein Bezug zu relevanten Aspekten der Umweltplanung zu erkennen.
- die Zielgrößen in Form zeitlicher Erreichbarkeiten zentraler Orte stellen kein eigenständiges Qualitätskriterium dar, sondern werden in Geschwindigkeitsvorgaben umgewandelt.
Das Versprechen, die Methodik einer integrierten Verkehrsnetzplanung vorzulegen, wird mit den vorgelegten RIN nicht eingelöst! In Kapitel 2 „Grundsätze für die Netzgestaltung“ (vgl. RIN, S.8) sind zwar wichtige Aspekte einer integrierten Netzgestaltung aufgelistet, aber diese verbale Beschreibung appelliert lediglich an die Wünschbarkeit eines integrativen Handelns. Insofern sollte der Hinweis (vgl. RIN, S.6) „Ein Abweichen von den folgenden Regelungen und Vorgaben ist immer dann geboten, wenn die aus der Abwägung entwickelte Lösung den konkurrierenden Belangen besser gerecht wird“ besondere Beachtung verdienen. Diesen „Spiel-raum“ sollte der Anwender nutzen, um sektorale Lösungen ggf. mit der Variante „Liegenlassen“ oder Renaturierung „auszuspielen“.
Die Erweiterung und Vorgabe von Qualitätskriterien für den ÖPNV, Rad- und Fußverkehr ist in der Tat ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist die Festschreibung eines notwendigen Wertewandels hin zu den verträglicheren Fortbewegungsmöglichkeiten. Aber ein Regelwerk, das einleitend Raum- und Siedlungsstrukturen mit dem Verkehr in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis beschreibt, dann aber die Wechselwirkungen zwischen den Verkehrsarten und den Maßnahmeplanungen in dieser Planungs- und Entscheidungshilfe ausgeklammert und dieses Regelwerk abschließend mit dem Begriff „integrierte Netzgestaltung“ etikettiert, erscheint mir äußerst fragwürdig!
Vor diesem Hintergrund wiederhole ich meinen Vorschlag, dieses Regelwerk nicht als RIN, sondern treffender und ehrlicher als RVN (Richtlinien zur VerkehrsNetzgestaltung) zu verstehen!
Teilhabe durch sichere und bezahlbare Erreichbarkeit
Die MKRO hat Zielgrößen für die Erreichbarkeit zentraler Orte von den Wohnstandorten wie auch zentraler Orte gleicher Zentralität vorgegeben(vgl. RIN, S.11, Tab. 1 + 2). Die RIN wandelt diese Zeitvorgaben in angestrebte mittlere Pkw-Fahrgeschwindigkeiten um und entwickelt anhand empirischer Fallbeispiele Geschwindigkeits-Qualitätsstufen zur Bewertung der Angebotsqualität (mittels sog. SAQ-Kurven) eines Verkehrsnetzes. Im Prinzip ergeben sich danach auch Defizite, wenn sich bei niedrigen Geschwindigkeiten durch die Nähe beieinander liegender Zentren kurze Reisezeiten realisieren lassen.
Für den Pkw-Verkehr ist eine allein auf Geschwindigkeiten basierende Bewertung des Straßenverkehrsnetzes bedenklich und zu kurz gegriffen. Ein Indikator Geschwindigkeit als vor-rangig erste Bewertungskenngröße eines Verkehrsnetzes vernachlässigt Verkehr als Beitrag zur Sicherung von Austauschbeziehungen und Teilhabe. Ein aktueller Leitsatz nachhaltiger Raum- und Verkehrsplanung lautet: „Erreichbarkeit und Sicherheit sind wichtiger als hohe Geschwindigkeit“. (3)
Bei Verkehrsbeziehungen im Netz kann es hier nur um die zeitliche (und auch bezahlbare) Erreichbarkeit gehen. Mit den als Bewertungsmaßstab beigefügten Angebotsqualitäten (SAQ-Kurven) wird eine Verkehrsnetzbewertung „vorgetäuscht“, die den heutigen und zukünftigen Ansprüchen an Erreichbarkeit und Sicherheit nicht gerecht wird. Außerdem könnten die so bewerteten Geschwindigkeits-„Qualitäten“ ggf. zu einem rechtlichen Anspruch auf Maßnahmen führen, die für eine Gebietskörperschaft oder einen Aufgabenträger nicht finanzierbar wären.
Hier wird es erforderlich (I) problemadäquate Indikatoren zur Beschreibung einer „angemessenen“ Angebotsqualität und (II) „nachhaltige“ Zeitvorgaben für Verbindungsfunktionen zukunftsorientiert neu zu entwickeln. Die im Anhang der RIN vorgestellten SAQ-Kurven sollten daher auch nicht beispielhaft zur Bewertung der verbindungsbezogenen Angebotsqualität genutzt werden.
Die vorgeschlagene RIN-Methodik ist als Bewertungsraster für Verkehrsnetze m.E. abzulehnen. Dies hat in anderen Verfahren zu erfolgen. Eine Bewertung von Netzen – mit dem postulierten Anspruch „integriert“ - hat alle weiteren relevanten Kriterien zu berücksichtigen, wie z. B. substituierbare oder kooperierende Qualitäten anderer Verkehrsträger, Verkehrssicherheit, Umweltkriterien, Energieaufwand. Doch dazu werden in den RIN keine handhabbaren Aussagen gemacht.
Mobilitätsansprüche neu ausbalancieren und verträglich gestalten
Einerseits sind die Ansprüche an die Stadt als Lebens-, Wirtschafts-, Kultur-, Bildungs-, Freizeit- und Verkehrsraum noch nie so hoch wie heute (4), andererseits sind parallel die Problemlagen – von ökologischen Konflikten bis hin zu sozialer Exklusion – bedrohlich gewachsen. Der Sicherung verträglicher und bezahlbarer Mobilität für alle kommt dabei – auch vor dem Hintergrund einer immer älter werden-den Bevölkerung - eine herausragende Rolle zu. In diesem Zusammenhang ist Mobilität in ihrer Dialektik von Nähe und Ferne als Befreiung wie auch Zwang zu diskutieren. Die aktuelle Herausforderung ist Nähe und Ferne neu zu balancieren. Damit werden Veränderungen im Raum-Zeit-Verhalten und der Raumstrukturen unausweichlich.
Denn Teilhabe durch Erreichbarkeit erfordert statt kontinuierlicher Erhöhung der Geschwindigkeiten neue Überlegungen und Festlegungen mit zeitlichen Ober- und Untergrenzen für Erreichbarkeiten in angepassten Siedlungsstrukturen. Aus meiner Sicht besteht die aktuelle Herausforderung darin, die weitgehend übererfüllten Zielgrößen für Erreichbarkeit zentraler Orte (Vorgaben der MKRO, vgl. RIN, S. 11, Tab. 2) – formuliert aus dem Zeitgeist der 1960er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts - neu zu diskutieren und im Sinne der inzwischen vergessenen jedoch weitsichtigen Krickenbeck-Entschließung (5) neue konzeptionelle Überlegungen für eine konkrete integrierte Methodik zu entwickeln. In diesem Zusammenhang ist ein neues Regelwerkgefüge unabdingbar, damit
- die wichtigen Wechselwirkungen zwischen Raum- bzw. Stadtentwicklung und Verkehr im Planungsprozess genutzt werden und zugleich
- „ein planerischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Vorrang für langsamere bzw. verträglichere Verkehre“ sich als Leitidee in einer wirklich integrierten Netzgestaltung etablieren kann.
Dieser Herausforderung sollten sich insbesondere auch die Zuständigen für Raumentwicklung und Siedlungsstruktur stellen – damit das hochwertige Gut Mobilität nicht durch siedlungsstrukturelle Ausstattungsdefizite und energieaufwendige Distanzüberwindung zu einem noch knapperen Gut und zu Ausgrenzung, sinkender Lebensqualität und wachsender Unzufriedenheit führen wird.
Gebrauchswert der RIN - Risiken und Nebenwirkungen
Die RIN sollen die funktionale Gliederung der Netze „im neuen FGSV-Regelwerksgefüge des Straßenentwurfs … bilden und damit Basis für das aktuell weiterentwickelte entwurfstechnische Regelwerk“ sein, so die politische Wegbegleitung. (6)
Es ist die funktionale „Neutralität“ der RIN oder generell der Regelwerke, die mir Probleme bereitet. Die Optionen des Gebrauchs zielen auf eine geschwindigkeitsorientierte Richtung, die die Risiken wie auch Chancen dieses Regelwerkes im Kontext der gesellschaftlichen Situation mit ihren Knappheitsverschärfungen nicht beachtet. Dieses so „neutrale“ Regelwerk, kann – wie beim Vorgänger Regelwerk RAS-N – im Pragmatismus des Alltags nicht den Herausforderungen an eine ökonomische, sozial gerech-te und ökologische Mobilität gerecht werden. Wir brauchen die kritische Auseinandersetzung mit den Regelwerken!
Fazit
Zusammenfassend erachte ich die RIN nicht für einen problemadäquaten Beitrag im Rahmen einer integrierten Raum- und Verkehrspolitik. Nach dem lang währenden Arbeitsprozess fehlte die Kraft, strategierelevante aktuelle Herausforderungen aufzunehmen. Die RIN stehen für Stillstand im Altbewährten: Vorwärts in die gängi-ge geschwindigkeitsorientierte sektorale Planungsphilosophie. Doch die Zeit ist reif, die Mobilitätsansprüche neu auszubalancieren. Für eine sichere, zuverlässige und bezahlbare Mobilität für Alle sind neue differenzierte Verbindungs- und Erschließungsfunktionen zu diskutieren, um eine integrierte Netzgestaltung in Raum- bzw. Stadtentwicklung und Verkehr voranzubringen.
In Kürze
Der Zwischenruf kommentiert ausgewählte Aspekte der neuen „Richtlinien für integrierte Netzgestaltung“ (RIN, Ausgabe 2008), die als Mutter- oder Dachrichtlinie einer neuen Generation von Regelwerken bezeichnet wird, und gibt zu bedenken, dass mit diesen RIN keine Aufforderung zu erkennen ist, vom „weiter so“ in der sektoralen Verkehrsnetzplanung abzuweichen. Die Erweiterung der RIN über den Straßenpersonen-Kfz-Verkehr hinaus auf ÖPNV, Rad- und Fußverkehr ist die positive Seite, die trotz des viel versprechenden Begriffs „integrier-te Netzgestaltung“ gleichwohl nebeneinander stehende sektorale Behandlung der Verkehrs-arten die negative Seite der Medaille.
Quellennachweise:
- Gerlach, Jürgen: Neue Regeln zur funktionalen Gliederung der Verkehrsnetze und zur Bewertung der Angebotsqualität , mobilogisch! 1/09 vom Februar 2009, S. 49 – 53
- Berechnungen durch Thomas Pütz, BBSR; siehe unter www.Raumbeobachtung.de ; => Indikatoren A – Z => Erreichbarkeit von Autobahnen
- Holz-Rau, Christian u.a.: Nachhaltige Raum- und Verkehrsplanung. In: Schriftenreihe direkt, H. 60, S. 14. im Auftrag des BMVBW, FE 73.0314/2001. Bonn 2006
- Einleitungssatz im Einladungsflyer zur Forschungskonferenz Urbane Mobilität des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) am 4. und 5. Mai 2009 in Berlin
- Die Forderung der sog. Krickenbeck-Entschließung „ein planerischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Vorrang für langsamere bzw. verträglichere Verkehre“ ist aktueller denn je. Vgl. Entschließung zu Grundsätzen einer integrierten Verkehrs-, Umwelt- und Raumordnungspolitik. Konferenz der Verkehr, Umwelt und Raumordnung zuständigen Minister und Senatoren der Länder und des Bundes am 5./6. Februar 1992 im Schloss Krickenbeck im Nettetal
- Vgl. BMVBS, S 10 Allgemeines Rundschreiben Straßenbau Nr. 21/2008 vom 28.10.2008 – vorangestellte grüne Seite in den RIN - 2008
Dieser Artikel von Gerd Würdemann ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen. Herr Würdemann ist Mitarbeiter am Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Referat I 5 "Verkehr und Umwelt“ im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR).
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Die Richtlinien für integrierte Netzgestaltung: Erfolg versprechend und für morgen – eine Erwiderung
Die Kritik von Gerd Würdemann zur RIN enttäuscht und ist leider nicht für einen fachlich fundierten wissenschaftlichen Disput geeignet. Obgleich ich Herrn Würdemann als ganzheitlich und zukunftsorientiert denkenden Menschen schätze und anerkenne, empfinde ich seine auf diese Weise vorgebrachte verspätete Kritik als bedauerlich. Zur Klarstellung: Herr Würdemann hat als Mitglied im FGSV-Arbeitsausschuss Netzgestaltung an der Entstehung der RIN mitgearbeitet und hatte daher Möglichkeiten einzuwirken. Erst kurz vor der Veröffentlichung hat er zum Ausdruck gebracht, dass er Vorbehalte hat und daher nicht als Mitglied in den RIN benannt werden will. Dabei bleibt er es schuldig, seine Vorstellungen „für eine konkrete integrierte Methodik“ darzustellen. Letztendlich ist dies auch nicht notwendig, denn die RIN bieten nach meiner Auffassung durchaus alle Möglichkeiten, „angemessene“ und „nachhaltige“ Angebotsqualitäten für Netze integriert zu entwickeln.
Erreichbarkeit und angestrebte Fahrgeschwindigkeiten
Die RIN dienen der funktionalen Gliederung und damit der Hierarchisierung der Netze. Während Verkehrsräume unterschiedlichste Funktionen, wie Aufenthalt und Erschließung erfüllen müssen, haben Netze die vorrangige Aufgabe, zu verbinden. Insofern definieren die RIN im Regel-werkgefüge der FGSV verbindungsbezogene Angebotsqualitäten, um die zwingend erforderliche schnelle Erreichbarkeit von wichtigen Einrichtungen, wie z.B. Krankenhäusern sicherzustellen. Durch die Einhaltung dieser Zielgrößen soll die notwendige Versorgung der Bevölkerung mit zentralen Einrichtungen sichergestellt werden.
Herr Würdemann stellt richtigerweise fest, dass die in den RIN bewusst übernommenen Erreich-barkeiten im PKW-Verkehr bereits weitgehend erfüllt sind. Er verschweigt indes, dass auch die mittleren angestrebten PKW - Fahrgeschwindigkeiten auf Netzabschnitten weitgehend eingehalten werden. Bezogen auf das Straßennetz werden mit den RIN daher bewusst kaum neue Verbindungen begründbar sein. Bei knappen Ressourcen in der Zukunft setzen sich die RIN bezogen auf das Straßennetz daher für einen Erhalt von Mindeststandards der Erreichbarkeiten ein, wobei die Anwendung der RIN die Bün-delung von Verkehrsströmen und die Identifizierung von Überangeboten ermöglichen.
In dieser Hinsicht wird momentan die Fernverkehrsfunktion des Bundesfernstraßennetzes mit Hilfe der RIN überprüft. Von einer „kontinuierlichen Erhöhung der Geschwindigkeiten“ oder einem „weiter so“ im Straßenverkehr kann somit keine Rede sein! Dahingegen fördern die RIN sogar einen „planerischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Vorrang für langsamere bzw. verträglichere Verkehre“ und geben Raum für „Shared Space“, indem das Netz entsprechend den Ideen von Hans Monderman als „Vater“ des Shared Space Gedankens in „schnelle“ und „langsame“ Abschnitte hierarchisiert und neu strukturiert wird.
Herr Würdemann verschweigt zudem, dass die in den RIN enthaltenen Zielgrößen der Erreichbarkeiten und Fahrgeschwindigkeiten für den Öffentlichen Verkehr und den Radverkehr sowie die qualitativ formulierten Anforderungen an Fußgängerverkehrsnetze in weiten Teilen Deutschlands heutzutage nicht erfüllt werden. Zudem herrscht bei Anwendung der RIN für das europäischer Eisenbahnnetz erheblicher Nachholbedarf. Der gleich am Anfang der RIN stehende integrierte Denkansatz ist somit ein „Nachziehen“ der Angebotsqualität der umweltfreundlichen Verkehrsträger. Die RIN ist daher auch keineswegs „neutral“, sondern schafft neue Grundlagen für eine „zuverlässige und bezahlbare“ sowie post-fossile Mobilität.
Integrierte versus sektorale Verkehrsnetzplanung
Gerd Würdemann kritisiert „die nebeneinander stehende Behandlung der Verkehrsarten“, die „keine integrierte Netzbetrachtung erkennen“ lassen und vermisst „konkrete z.B. verkehrsträgerübergreifende Handlungshinweise“, Aussagen zu „Wechselwirkungen zwischen den Verkehrsarten und den Maßnahmeplanungen“ sowie „zwischen Raum- bzw. Stadtentwicklung und Verkehr“.
Die Kritik ist gegenstandslos und muss zurückgewiesen werden. Der Ausschuss hat sich zum Einen bewusst dafür entschieden, neue Instrumente für sektorale Netzplanungen, wie gesetzlich geforderte Nahverkehrspläne zur Verfügung zu stellen und dabei erstmals die Möglichkeit zu bieten, systematisch einheitliche Netzstrukturen zu schaffen bzw. vorzuhalten. Zum Anderen werden sehr wohl verkehrsträgerübergreifende Handlungsempfehlungen gegeben, um über das jeweils betrachtete Verkehrssystem hinaus die übrigen Verkehrssys-teme einzubeziehen. Also in Anlehnung an den gesetzlich geregelten Planungsprozess in Deutschland, der sektorale und integrierte Züge aufweist kein „entweder oder“, sondern ein „sowohl als auch“. Der Vorwurf der fehlenden integrierten Betrachtung ist durchaus berechtigt – nur der Adressat ist falsch. Die RIN enthalten beste Ansätze, um sich von immer noch vorherrschenden sektoralen Betrachtungen endlich zu verabschieden!
So soll die Bedeutung einer bestimmten Verbindung eines Verkehrssystems in Abhängigkeit vom Ausbau eines anderen Verkehrssystems bestimmt werden - Auf- und Abstufungen bei parallel laufenden Verbindungen meh-rerer Verkehrsträger sind ausdrücklich möglich. Die RIN fordern dabei die „Ermittlung der Wirkungen von Veränderungen eines Verkehrsnetzes auf alle Verkehrssysteme, wobei die Möglichkeiten der Koordination, Funktionsergänzung und Verkehrsverlagerung ausgeschöpft werden sollen“ und geben Hinweise auf weitere FGSV-Regelwerke, die die Ermittlung und Bewertung von Wirkungen behandeln.
Im Rahmen der Bewertung der Verbindungsqualität erfolgt ein Vergleich der berechneten Kenngrößen mit Anhaltswerten für einzelne Verkehrssysteme oder Kombinationen von Verkehrssystemen. Qualitätsstufen für Luftliniengeschwindigkeiten ermöglichen eine vergleichende Bewertung zwischen Pkw-Verkehr und Öffentlichem Verkehr. Angebotsqualitäten konkurrierender Verkehrssysteme können anhand von Orientierungswerten für Reisezeitverhältnisse verglichen werden, wobei auch Mischformen (Park+Ride) und der Radverkehr (einschl. Bike+Ride) einzubeziehen sind.
Zur Förderung der durchgängigen Nutzung mehrerer Verkehrssysteme bilden die RIN zudem die Basis für ein systematisch aufgebautes System von Verknüpfungspunkten.
Die Überprüfung der Erreichbarkeiten sollen gemäß RIN darüber hinaus Hinweise auf mögliche raumordnerische Defizite geben. Planer/ innen sind dementsprechend gefordert, nicht nur die Netzstruktur, sondern auch die Raum- und Stadtstruktur in Frage zu stellen.
Zusammengefasst: eben keine „nebeneinander stehende sektorale Behandlung der Verkehrsarten“, sondern Integration von Raum-, Stadtentwicklung und Verkehr sowie integrierte und verkehrsträgerübergreifende Betrachtung in Reinform!
Gestaltungs- und Bewertungskriterien
Herr Würdemann hält „eine allein auf Geschwindigkeiten basierende Bewertung des Straßenverkehrsnetzes bedenklich“. Er fordert die Einbeziehung weiterer Kriterien wie Verkehrssicherheit, Umweltwirkungen und Energie-aufwand. Dazu zitiere ich gerne wortwörtlich aus den RIN: „Die Bewertung der Wirkungen von Netzkonzepten oder Einzelmaßnahmen ist nicht Gegenstand der RIN. Hierzu wird auf die einschlägigen Regelwerke und Verfahren (Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen, Empfehlungen für die Sicherheitsanalyse von Straßennetzen, Empfehlungen für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen an Straßen, Standardisierte Bewertung ÖPNV, Gesamt-wirtschaftliche Bewertung BVWP, VDV-Schriften) sowie die Strategische Umweltprüfung verwiesen.“ Zusätzlich zu diesen vorliegenden Verfahren bieten die RIN nun einen ersten Anhalt zu Orientierungswerten für eine verbindungsbezogene Problemanalyse, bei der die „Entwicklungsmöglichkeiten eines Verkehrssystems im Verhältnis zu einem anderen Verkehrssys-tem ausgelotet werden“ können.
Die RIN fügt sich damit in die Regelwerksstruktur der FGSV ein und bietet einen Beitrag dazu, „die Mobilitätsansprüche“ entsprechend der Forderung von Herrn Würdemann „neu auszubalancieren“. Zur Berücksichtigung der Kriterien Verkehrssicherheit, Umweltwirkungen und Energieaufwand existieren etablierte Verfahren. Darüber hinaus sind derzeit neue Regelwerke gerade zu diesen Kriterien in Bearbeitung, die gemeinsam mit den RIN und der neuen Regelwerksgeneration eine wesentliche Grundlage für ein verantwortliches Handeln und Gestalten bilden.
Fazit
Zusammenfassend ist der Zwischenruf nicht haltbar. Die aufgeworfenen Fragestellungen bleiben an der Oberfläche. Vermutlich ist dieses auch der Grund, warum der Zwischenrufer bisher zu keinem Zeitpunkt konkrete und konstruktive Vorschläge zur Methodik der Netzgestaltung zu Papier gebracht hat.
Die RIN ermöglichen eine integrierte Netzgestaltung und sollten in diesem Sinne als fester Bestandteil der neuen Regelwerksgeneration bei allen netzbezogenen Planungsprozessen angewendet werden. Da sie nicht für alle Zeiten fest geschrieben stehen, ist die Übermittlung von Erfahrungen, Modifizierungs- und Erweiterungsvorschlägen sowie die aktive Mitarbeit im Arbeitsausschuss – und hier spreche im Namen aller Mitglieder – ausdrücklich erwünscht.
In Kürze
Für eine wissenschaftlich fundierte Diskussion um die Methodik der integrierten Netzgestaltung hilft der Zwischenruf nicht. Herr Würdemann äußert beim näheren Hinsehen ungerechtfertigte Kritikpunkte zur RIN, die vielmehr alle von ihm eingebrachten Forderungen bereits erfüllen. Bei planerisch fundierter Anwendung werden die RIN im Einklang mit den weiteren Regelwerken der FGSV dazu beitragen, das Straßenverkehrsnetz neu zu strukturieren, Überangebote abzubauen, umweltfreundliche Verkehrssysteme zu fördern, Energie einzusparen und die Mobilität sicher und bezahlbar zu gestalten. In Einem sind wir uns einig: die in der Praxis vorherrschende sektorale Planungsphilosophie ist durchweg durch integrierte Betrachtungen zu ersetzen.
Dieser Artikel von Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gerlach ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2009, erschienen. Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gerlach - Fachzentrum Verkehr der Bergischen Universität Wuppertal, Schriftleiter der Zeitschrift für Verkehrssicherheit und Leiter des FGSV-Arbeitsauschusses 1.3 Netzgestaltung.
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