Planungsgrundlagen
Neue Richtlinien für Lichtsignalanlagen RiLSA 2010: Kritische Einschätzung
Weichenstellungen für den städtischen Verkehr?
Nun ist sie also da, die bereits für 2005 angekündigte, dann aber auf 2007 verschobene RiLSA 2010. Sie verkündet u.a. „Bevorrechtigungsmaßnahmen“ für nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer und nimmt damit den Mund zu voll. Wir wären ja auch schon zufrieden damit, wenn bei der Einrichtung von Lichtsignalanlagen als eine der Zielvorgaben „Gleichberechtigung“ gelten würde. Letztlich aber wird versucht, alles offen zu halten. Der Abwägungsprozess über die Verteilung von Flächen und Zeit wird detailliert und keineswegs gleichberechtigt beschrieben. Die Entscheidungen werden den Menschen überlassen, die oft seit Jahrzehnten mit diesem Instrument den Kfz-Verkehr fließend halten. Kreativität oder gar Aufbruchstimmung im Sinne der Förderung der klimaschonenden Verkehrsmittel vermittelt das Werk nicht. Eine Betrachtungs-Kostprobe aus der Sicht des Fußverkehrs:
Es ist sicher kein Zufall, dass es kaum eine andere Richtlinie oder Empfehlung aus dem Hause „Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FHSV“ gibt, deren Erscheinungsdatum so lange angekündigt wurde wie die RiLSA. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, dass die mit den LSA-Schaltungen betrauten Verwaltungsstellen in den Städten häufig die Blockadeabteilungen sind, wenn es darum geht, den Verkehr auch einmal ein wenig für den Fuß-, Rad- und ÖPN-Verkehr zu beschleunigen. Selbst in Berlin (wir berichten darüber an anderer Stelle in dieser mobilogisch!) wird es bei der Konkretisierung der geplanten drei Pilotvorhaben einer „fußgängerfreundlichen Steuerung von Lichtsignalanlagen“ noch einige Diskussionen und Kontroversen darüber geben, was wirklich grundsätzliche Verbesserungen wären und was „Spielwiese“. Bedenklich ist dabei: So wie sich die Verwaltungen außerhalb der LSA-Abteilungen kaum um derartige komplexe und komplizierte Fragen kümmern möchten; so standhaft sind häufig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im LSA-Bereich mit ihrem fachmännischen „geht nicht“.
Rein historisch gesehen waren Ampeln eine Querungshilfe für Fußgänger. Das sollen sie wohl immer noch sein, deshalb werden die Fußgänger in der neuen RiLSA ziemlich häufig genannt. Wenn es aber um Abwägungen zwischen den Belangen der verschiedenen Verkehrsarten geht, geht die Aufmerksamkeit für die Fußgänger merklich zurück. Zwar wird deutlich gemacht, dass es zu „Zielkonflikten kommen (kann)“ (1.2.4). Aber wie sieht ein Abwägungsprozeß ohne starke verkehrspolitische Optionen aus, wenn es darum geht, dass „im Knotenpunkt keine Behinderungen durch gestaute Fahrzeuge auftreten“ sollen oder Fußgängern „ein zügiges Queren hintereinanderliegender Furten“ zu ermöglichen ist?
Audit: Ampel-Einrichtung
Grundsätzlich als positiv eingestuft wird, dass bei den Einrichtungskriterien die bisherige Fixierung auf Unfallhäufungen oder zu erwartende Unfälle bei Straßenneu- und -umbau verzichtet wurde. „Die Einrichtung einer Lichtsignalanlage ist sinnvoll, wenn Unfälle zu erwarten sind … und wenn sich andere Maßnahmen …. als wirkungslos erwiesen haben oder keinen Erfolg versprechen.“ Obwohl nicht ausdrücklich genannt, sind damit auch Fußverkehrs-Audits im Bestand gemeint, wie in dieser mobilogisch! an anderer Stelle beschrieben. Richtig auch, dass vorher die Wirksamkeit von „z.B. Geschwindigkeitsbeschränkungen, Überholverbote, bauliche Querungsanlagen für Radfahrer und Fußgänger“ überprüft werden sollte. „Bei Gefährdung besonders schutzbedürftiger Personen (z.B. ältere Menschen, Behinderte und Kinder), … soll unabhängig von der Anzahl der schutzbedürftigen Personen oder von der Unfallsituation eine Lichtsignalanlage eingerichtet werden, … wenn in zumutbarer Entfernung keine gesicherte Querung möglich … (und) anders ein Schutz nicht erreichbar ist.“ (RiLSA 1.2.1) Hier ist also ganz eindeutig der Schwerpunkt auf die Verhältnis-Prävention bei Verkehrsunfällen verschoben worden. Die in der RiLSA 1992 herausgestellte Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs, der Abgas- und Lärmemissionen wurde in der Bedeutung wieder eher heruntergeschraubt, möglicherweise weil sie nicht so bedeutend oder auch nicht wirklich nachweisbar sind.
Umwege + Querungslängen
„In manchen Fällen genügt zur Zielerreichung auch eine nicht vollständige Signalisierung… die weniger intensiv in natürliche Verkehrsabläufe eingreift und auch geringere Kosten verursacht.“ (RiLSA 1.1) Billiger ist immer gut, aber was sind „natürliche Verkehrsabläufe“? Vorstellbar ist eine Straßenführung mit z.B. starkem Kfz-Abbiegeverkehr, wo eine geschlossene Signalisierung den Kfz-Verkehrsfluss behindern würde und man deshalb eine Fußgängerfurt einfach weglässt. Durch sogenannte Umlaufsperren (Drängelgitter) wird das Queren im direkten Wegeverlauf - also der natürliche Verkehrsablauf der Fußgänger - verhindert. So können bis zu vierfache Wegelängen und vierfache Wartezeiten für Fußgänger entstehen, eigentlich eine Zumutung. Aber: „Durch eine Vollsignalisierung lassen sich … gegenüber einer nichtvollständigen Signalisierung in der Regel keine zusätzlichen Kapazitätsreserven (gemeint ist: des Kfz-Verkehrs) mobilisieren“ (RiLSA 5.1.2)
Während im Einleitungsteil hervorgehoben wird, dass sich durch „Lichtsignalanlagen bauliche Erweiterungen der Straßenverkehrsanlagen (gemeint ist für den Kfz-Verkehr) vermeiden“ lassen (RiLSA 1.2.2) und später ausgesagt wird, dass „die Ausdehnung des engeren Knotenpunktbereichs wegen der Auswirkungen auf die Belange der Fußgänger und Radfahrer … klein gehalten werden (sollte)“ (RiLSA 3.1); folgt sobald eine Ausnahme für eine häufig auftretende Situation: „Besonders innerhalb bebauter Gebiete kann es jedoch notwendig werden, die Anzahl durchgehender Fahrstreifen in den Knotenpunktzufahrten zu vergrößern…“ (RiLSA 3.2.1).
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es in der gesamten RiLSA und selbst in der Beispielsammlung keine einzige Abbildung gibt, wo man den Querungsweg für Fußgänger z.B. durch eine Gehwegvorstreckung verkürzen könnte. Da werden in der Regel autobahnausfahrtsähnliche Situationen mit gesonderten Abbiegespuren für Links- und Rechtsabbieger gezeigt. Parkende Kraftfahrzeuge bis an den 5-Meter-Bereich heran (nach StVO §12 (3) 1.) gibt es nicht. Wenn solche LSA-Situationen möglicherweise überflüssig sind, müsste in den Städten ein umfangreiches Austausch-Programm umgesetzt werden: „Fußgängerüberwege statt Ampeln“.
Für die Dreiecksinseln ging mit der RiLSA 1992 insbesondere wegen der Umwege und der schlecht umzusetzenden Sicherheit für Fußgänger der Daumen nach unten: „Beim Neu- und Umbau lichtsignalgesteuerter Knotenpunkte sollte geprüft werden, ob im Interesse der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer auf Dreiecksinseln verzichtet werden kann“ (RiLSA 1992, 3.4.3). In den „Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen“ aus dem Jahre 2002 wurde die Ablehnung noch deutlicher ausgesprochen (EFA 2002, 3.3.6.4); doch tauchen sie wieder in der neuen RiLSA als eine selbstverständliche Rechtsabbiegerbeschleunigung auf. Eine Einbeziehung in die Signalisierung ist nur erforderlich, wenn „zügig“ abgebogen wird oder Fußgängerströme „bedeutend“ sind (RiLSA 2.3.1.3). Durch Dreiecksinseln dürfen „die Belange der Fußgänger und Radfahrer … nicht beeinträchtigt werden“; da sie aber „vorrangig der Kapazitätserhöhung“ (gemeint ist der Kfz-Verehr)“ dienen (RiLSA 3.2.3), sind sie offensichtlich von ihrer Gefährlichkeit freigesprochen.
Wartezeiten
Wurden bisher die Umlaufzeiten mit „maximal 90 (120)s“ angegeben, ist jetzt festgelegt: „die maximale Umlaufzeit beträgt 120 s“, mehr „als 90 s sollten nach Möglichkeiten vermieden werden.“ (RiLSA 2.6). Formulierungsnuancen? Immerhin ergeben 120 Sekunden Umlaufzeit nach dem „Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“ bei Qualitätsstufe B: „Die Wartezeiten sind kurz“ eine „mittlere Fußgängerwartezeit“ von etwa 70, bei Qualitätsstufe D: „Die Wartezeiten sind beträchtlich“ gar 85 Sekunden (HBS 6.3.2, Tab. 6-2 und 6.4.6). Alles ist möglich.
In der nunmehr abgelösten RiLSA stand noch: „Zum Beispiel sollte für Fußgänger und Radfahrer die maximale Sperrzeit 60 s nicht überschreiten“ (RiLSA 1992, 2.6.5), war das nicht einzuhalten, musste geprüft werden, „ob Fußgängern innerhalb einer Umlaufzeit zweimal eine kurze Freigabezeit („Doppelanwurf“) gegeben werden kann.“ Dies alles ist aus der Richtlinie verschwunden und ersetzt worden: „Die Wartezeit bis zur Freigabe des Fußverkehrs sollte möglichst kurz sein. Durch ein Informationssignal (z.B. Text: „Signal kommt“) kann den Fußgängern angezeigt werden, das ihre Anforderung registriert ist“ (RiLSA 2.3.1.5). Information ist fast alles.
Auf eine Festlegung einer maximalen Rot-Zeit wurde verzichtet, weil diese „für eine Verkehrsteilnehmergruppe oder einen Verkehrsstrom … stark von der Steuerungsstrategie und von der Abwägung der Zielkonflikte ab(hängt)“ (RiLSA 2.7.3). Beachtet werden soll dabei auf „die Akzeptanz bei Fußgängern und Radfahrern“ und „die verfügbare Wartefläche für Fußgänger und Radfahrer“ (RilSA 2.7.3). Letzteres ist sehr fürsorglich, denn bei einer Aufstelldichte von mehr als 2 Personen pro Quadratmeter (RiLSA 3.6) macht langes Warten bei jeder Witterung nicht so rechten Spaß.
Darüber hinaus wurde die sogenannte „Bettelampel“ in einer denkwürdigen Formulierung schön geredet: Hier wird „in eine gegebene Phasenfolge nur auf Anforderung eine Phase eingeschoben, um nicht ständig auftretenden Verkehrsströmen (z.B. abbiegende Fahrzeugströme, ÖPNV-Fahrzeuge, Radfahrer, Fußgänger) das Befahren bzw. Begehen des Knotenpunktes bedarfsgerecht zu ermöglichen“ (RiLSA 4.3.4.3).
Gehzeiten
Nach wie vor sind Fußgänger überaus reaktionsschnell und setzen sich ab Grün sofort und ohne Reaktionszeit in Bewegung. Deshalb wohl wurde die Mindestgrünzeit auch, entgegen aller wissenschaftlichen Aussagen zu diesem Thema, mit 5 Sekunden belassen (RiLSA 2.7.4). Allerdings wurde die zusätzliche Bedingung, dass Fußgänger bei Grün mindestens „die halbe Furtlänge“ bzw. bei hintereinanderliegenden Furten „die Mittelinsel/der Fahrbahnteiler und die Hälfte der zweiten Furt gequert werden können“ ebenfalls übernommen (RiLSA 2.7.4).
„Die Qualität des Verkehrsablaufs …. nicht motorisierter Verkehrsteilnehmergruppen kann durch geeignete Bevorrechtigungsmaßnahmen entscheidend verbessert werden“ (RiLSA 1.2.2). Diese Aussage lässt Gutes erhoffen, doch im Detail wie z.B. zum Thema „Mindestfreigabezeiten“ sehen die Formulierungen doch ein wenig anders aus: „Bei einer größeren Anzahl hintereinanderliegender Furten ist auf eine insgesamt möglichst fußgängerfreundliche Gestaltung des Signalprogramms zu achten. Eine Koordinierung wird sich jedoch aufgrund vielfältiger weiterer Randbedingungen in den meisten Fällen nicht realisieren lassen“ (RiLSA 2.7.4). Soll man es da noch versuchen?
In diesem Zusammenhang ist es erfreulich, dass folgende Aussage noch einmal bekräftigt wurde: „Für den Kraftfahrzeugverkehr nicht benötigte Freigabezeiten sind für die Verlängerung der Fußgängerfreigabezeiten zu nutzen“ (RiLSA 2.3.1.5). Das war zwar auch in der alten RiLSA als „Abbruch nicht ausgelasteter Fahrzeugfreigabezeiten“ enthalten (RiLSA 1992, 7.3.2) und hat nunmehr 18 Jahre lang keine besonderen Aktivitäten in den Kommunen hervorgerufen; doch klingt die neue Formulierung schon mehr nach einem Prüfauftrag, wenn es denn die Stadtpolitik so will. Will sie es, sollte man ein Auge zudrücken, dass es ja wiederum lediglich um Restzeiten-Zuteilungen geht und keineswegs um die angekündigte „Bevorrechtigung“.
Geh-fahr bei Grün!
Es ist keine Neuigkeit dieser Richtlinien-Ausgabe, dass der größte Konfliktstoff in der gemeinsamen Nutzung der Furt bei Grün für Fußgänger auch durch andere Verkehrsteilnehmer liegt. Unfallanalysen haben diese Vorgänge stets als latente Unfallgefahr herausgestellt. Durch die RiLSA 1992 wurde auf eine breite Diskussion für möglichst viele „konfliktfreie“ Ampelschaltungen reagiert. Es gab nur wenige Untersuchungen mit dem selbstverständlichen Nachweis, dass bei Trennung der Verkehrsströme deutlich weniger Fußgängerunfälle zu beklagen sind. Es gab aber auch verkehrspolitischen Gegenwind und eine Apathie oder Aversion gegenüber „konfliktfrei“ in den Schaltzentralen.
Die RiLSA 2010 kann nicht logisch erklären, worin der Unterschied zwischen „bedingt verträglichen“ und „nichtverträglichen“ Verkehrsströmen liegt (RiLSA 2.3.1.1). Allein durch die Entscheidung, auf der Furt „gemeinsame Konfliktflächen mit Fahrzeugen des Gegenverkehrs“ zu akzeptieren oder zu schaffen, macht diesen gleichzeitigen rollenden Verkehr „bedingt verträglich“. Logik ist anders, doch klingt die Bezeichnung gut. Leider führen diese Vorgänge tagtäglich zu unzähligen Konflikten, Beinaheunfällen und bekanntlich kostet es auch Fußgängern ihre Gesundheit oder gar ihr Leben. Da auch dies lebensgefährlich ist, lässt sich durch „bedingt verträgliche Fußgänger“ kaum bei ROT über den Verkehrsknoten wandern, um einmal wenigstens Gleichberechtigung zu demonstrieren.
In der RiLSA wird zur 1. Stufe einer konfliktfreien Ampelschaltung konstatiert: „Die getrennte Signalisierung ermöglicht den vollen Signalschutz. Sie führt aber für alle Verkehrsteilnehmer zu längeren Wartezeiten …“ (RiLSA 2.3.1.5) In der Diskussion mit Stadtverwaltungen wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass die Fußgänger dann länger warten müssen, also Nachteile haben, die man ihnen nicht zumuten will. Eigentlich will man aber nicht, dass die Wartezeiten für den Autoverkehr zunehmen. Man sollte sich dadurch nicht einschüchtern lassen, sondern Fakten fordern, denn möglicherweise kann durch nicht ausgenutzte Grünzeiten eine zusätzliche Phase eingeschoben werden oder die Wartezeiten für Fußgänger sind akzeptierbar angesichts der deutlichen Verbesserung der Verkehrssicherheit. Leider werden in der RiLSA sehr verschwommene Kriterien für die Einführung einer getrennten Signalisierung genannt: z.B. ein „zügig geführter“ Abbiegeverkehr oder „starke“ Fußgängerströme (RiLSA 2.3.1.5). In der Praxis bestimmt jede/r Fahrzeugführer/in für sich, wie zügig er/sie durch die Fußgänger durchsetzen will.
Beim 1992 neu in Deutschland eingeführten „Rundum-Grün“ ist nun der Rückwärtsgang eingeschaltet worden. Unbestritten bleibt, dass „Alles-ROT für den Fahrzeugverkehr …die mögliche Gefährdung der Fußgänger durch abbiegende Fahrzeuge (vermeidet)“, doch kann diese zweite Stufe der konfliktfreien Ampelschaltung zukünftig nur noch bei „starkem Fußgängerverkehr und geringem Kraftfahrzeugverkehr angewendet werden“ (RiLSA2.3.1.5).
Starker Fußverkehr war bisher die auch logische Voraussetzung für die dritte Stufe konfliktfrei: die Diagonalquerung. Das Queren über Eck, in vielen europäischen Städten möglich, ist nun in der RiLSA nicht mehr enthalten. Der Grund dafür stand bereits in der RiLSA 1992, dass die Diagonalquerung „im fließenden Kraftfahrzeugverkehr zu erheblichen Benachteiligungen führen (kann)“ (RiLSA 1992, 7.3.6)… nicht aber muss, wie das in Berlin seit Jahren an einer Kreuzung erfolgreich erprobt wurde. Dennoch bleibt auch die Diagonalquerung in Deutschland Stand der Technik, nachzulesen in den gültigen „Emfehlungen für Fußverkehrsanlagen EFA“ (EFA 2002, 3.3.5.2).
Geh-fahr beim Grünpfeil
Der grüne Blechpfeil wurde erst in der „Teilfortschreibung 2003“ zur RiLSA problematisiert, in dem sehr deutlich und mit Abbildungen auf die „mögliche Behinderung und Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern“ hingewiesen wurde (9.Ergänzung der RiLSA, Anhang L). Die damals bereits formulierten Einsatzgrenzen wurden leicht umformuliert mit folgender Ausnahme übernommen, dass die Grünpfeilregelung außerhalb bebauter Gebiete nicht eingesetzt werden sollte. Dafür wurde die Aussage, dass es eine „ausreichende Sicht auf alle freigegebenen Verkehrsströme“ geben muss, folgendermaßen konkretisiert: „Diese muss bereits an der Haltelinie der Rechtsabbieger gegeben sein, damit die nach der Grünpfeil-Regelung fahrenden Fahrzeuge nicht die Wege freigegebener Ströme blockieren, wenn sie bis zu seiner Sichtlinie vorgefahren sind und dort wieder halten müssen“ (RiLSA 2.3.1.3). Sollte diese Regelung wirklich konsequent umgesetzt werden, dürfte es kaum noch grüne Blechpfeile geben.
Roträumung
Obwohl das Gehen gegen Fußgänger-Rot eine latente Gefahr für Fußgänger darstellt, insbesondere ältere Menschen irritiert und mitunter Fahrzeugführer/innen zu aggressiven Bemerkungen oder Verhalten veranlasst, gilt weiterhin unmissverständlich: „Die Signalfolge für Fußgänger enthält keine Übergangszeiten.“ (RiLSA 2.4) Also wird es weiterhin eine Diskussion darüber geben, ob Fußgänger-Gelb (Düsseldorf), Rot- bzw. Grün-Blinken nach Grün-Ende (Räumzeit) auch in Deutschland sinnvoll wäre.
Da im Gegensatz zum Fahrzeugverkehr weiterhin bei Fußgängern vorausgesetzt wird, „dass sie die Furt nicht noch nach dem Ende der Freigabezeit betreten“, wird auch die „Übergehzeit“ mit Null angesetzt. Ein Fußgänger räumt die Kreuzung mit 1,2 m/s, der Ansatz von 1,5 /s sind möglich, was schon ein recht flottes Wandertempo ist (RiLSA 2.5.2, Fall 6).
Fazit
Sollten die Erhöhung der Sicherheit, mehr Komfort und Klarheit oder gar die Beschleunigung des Fußverkehrs erreicht werden, bleibt auch die neue Fassung der RiLSA sehr im Dunstbereich. Verbindliche Aussagen für direkte Überquerungen im Wegeverlauf, möglichst getrennte und damit konfliktfreie Verkehrsströme und fußgängerfreundliche Signalschaltungen sind mit zahlreichen Einschränkungen und Aufweichungen verbunden. Die Reduzierung der Querungslängen der Fußgänger wird erst gar nicht problematisiert, weil es letztlich darum geht, die Kfz-Kapazitäten in Knotenpunktbereichen zu erhöhen und das benötigt Fläche.
Die durchgehend erwähnte Aufforderung, bei Abwägungsprozessen auch die Belange der Fußgänger zu beachten bleibt nebulös, wenn die Belange der Fußgänger nicht genauso als „harte Fakten“ eingebracht werden, wie sie für die stauempfindlichen Verkehrsströme des Kfz-Verkehrs ausführlich dargestellt werden. Obwohl die RiLSA 2010 den „gültigen Stand der Technik dar(stellt,)… können Fachleute in begründeten Fällen in Eigenverantwortung von den fixierten Grundlagen und Grundsätzen abweichen.“ (RiLSA 1.1) Selbstverständlich können sie sich auch auf andere Regelwerke aus dem gleichen Hause FGSV berufen, um fußverkehrsgerechtere Maßnahmen umzusetzen.
Vor 33 Jahren beschrieben Retzko und Häckelmann in der Zeitschrift für Verkehrssicherheit (4/1977) „Latente Gefahren für Fußgänger an Lichtsignalanlagen“. Es wird den Bürgern, Initiativen und Verbänden auch in Zukunft nicht erspart bleiben, immer wieder auf diese Untersuchung hinzuweisen, in der die Probleme und Herausforderungen aus der Sicht des Fußverkehrs an Ampeln exakt beschrieben wurden.
In Kürze
Wegen der Fülle der Informationen (überholte und neue Richtlinien zusammen etwa 1025 Textseiten) wurde eine erste Sichtung der RiLSA 2010 gewagt, zunächst auf den Fußverkehr fokussiert. Lichtsignalanlagen sind im städtischen Verkehr von immenser Bedeutung und leider auch keine ganz einfache Materie. Genau deshalb dürfen sich die Betroffenen nicht von der ingenieurmäßigen Aufbereitung abschrecken lassen. Sie sollten alle Aussagen kritisch hinterfragen und sich vehement für die Umsetzung fußgängerfreundlicherer Regelwerke einsetzen. Die vergleichende Betrachtung zeigt, dass dies eher auf die RiLSA 1992 zutraf als auf die RiLSA 2010.
Quellennachweise:
- Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hg.), Arbeitsgruppe Verkehrsmanagement: RiLSA Richtlinien für Lichtsignalanlagen – Lichtzeichenanlagen für den Straßenverkehr, Ausgabe 2010. Die völlig überarbeitete Fassung ersetzt die RiLSA Ausgabe 1992 / Fassung 1998 sowie die „Teilfortschreibung der Richtlinien für Signalanlagen“, Ausgabe 2003. Informationen über die erfolgten Veränderungen werden nicht zur Verfügung gestellt. Erste Korrekturen zur Neuausgabe finden Sie unter www.fgsv-verlag.de, Artikel FGSV 321 RiLSA.
- FGSV (Hg.), Arbeitskreis „Neufassung RiLSA“ des Arbeitsausschusses „Verkehrsbeeinflussung innerorts“: Beispielesammlung zu den Richtlinien für Lichtsignalanlagen RiLSA.
- FGSV (Hg.), Kommission „Bemessung von Straßenverkehrsanlagen“: HBS Handbuch für die Bemessung von Straßenverkehrsanlagen, Fassung 2009, Mai 2010. Die Korrekturen gegenüber der Ausgabe 2001 sind unter www.fgsv-verlag.de, Detailansicht (Suche) des Artikels FGSV 299 HBS abrufbar. Da es sich aber immerhin um 33 Korrekturblätter handelt, die als Dateien aufzurufen sind und die Änderungen nicht hervorheben wurden, ist dies bei einem 336-seitigen Handbuch nicht besonders handlich.
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 3/2010, erschienen.
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DIN Sicherheit von Fahrtreppen und Fahrsteigen 2009
Im Sinne der Europäischen Normung wurde in der ab März 2009 geltenden DIN EN 115-1 eine sehr kleine Veränderung gegenüber der bisherigen Regelung vorgenommen: Konnten vorher „aufgrund örtlicher Bedingungen“ an Rolltreppen Hinweise angebracht werden, dass die Benutzung mit einem Kinderwagen nicht gestattet ist; ist dieses Schild nun vorgeschrieben. Solche Normen haben aber nur empfehlenden Charakter.
- Eine kritische Einschätzung dieser Fahrtreppen-DIN finden Sie im Artikel: „Neue Barrieren für mobilitätsbehinderte Fußgänger: Kinderwagen auf Rolltreppen verboten“ in unserer Zeitschrift mobilogisch! (1/10).
DIN Sicherheit von Fahrtreppen und Fahrsteigen 2009: Kritische Einschätzung
Neue Barrieren für mobilitätsbehinderte Fußgänger: Kinderwagen auf Rolltreppen verboten
Seit diesem Jahr ist das Benutzen von Fahrtreppen mit Kinderwagen grundsätzlich ein „unsachgemäßes Verhalten“ und es sind entsprechende Verbotsschilder anzubringen. Diese neue Regelung hat in der Öffentlichkeit einigen Wirbel verursacht. Das Deutsche Institut für Normung redet die Veränderung klein und bleibt die Antwort schuldig, wie das Unfallaufkommen bisher aussah. Für die Normen-Verfasser sind Fahrtreppen „nicht Bestandteil eines barrierefreien Transportsystems“.
In der bisherigen Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates (Maschinenrichtlinie 98/37/EG) wurde die Berücksichtigung „nicht ordnungsgemäßer Verwendung“ bei Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen gefordert. Seit 2006 geht die EG-Richtlinie (2006/42/EG), ins deutsche Recht umgesetzt durch die Maschinenverordnung am 29. Dezember 2009 (9.GPSGV), darüber hinaus: „auf vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendungen (unsachgemäßes Verhalten)“ muss eine „angemessene Reaktion“ erfolgen mit „notwendigen Schutzmaßnahmen gegen Risiken, die sich nicht beseitigen lassen.“ Gefordert wird die „Unterrichtung der Benutzer über die Restrisiken….“ (1.1.2., a) und b).
Bisher wurde in der für das „Inverkehrbringen von Fahrtreppen“ geltenden DIN-Norm aus dem Jahre 1995 darauf hingewiesen: „Zusätzliche Hinweise können aufgrund örtlicher Bedingungen erforderlich werden, z.B. ´Benutzung nur mit Schuhwerk gestattet´, `Keine sperrigen und schweren Lasten transportieren`, `Kinderwagentransport verboten`.“ Mit Veröffentlichung der DIN EN 115-1 im März 2009 gilt: „Folgende Gebots- und Verbotszeichen für den Benutzer müssen in der Nähe der Zugänge angebracht sein: „Kinderwagen verboten“ (7.2.1.2.1, d). Mit dieser kleinen Veränderung von „können“ in „müssen“ ist die Rolltreppenbenutzung mit einem Kinderwagen grundsätzlich und in ganz Deutschland ein „unsachgemäßes Verhalten“. In Deutschland wird also nicht über „Restrisiken unterrichtet“ (wie beim Kleingedruckten im Beipackzettel von Medikamenten), sondern „verboten“.
Unfalldaten liegen nicht vor
Das deutsche Institut für Normung begründet die Veränderung mit dem Hinweis, dass „Unfälle mit Kinderwagen auf Fahrtreppen…keine Seltenheit“ sind (PR 20.1.2010), geht aber nicht näher auf die Dringlichkeit der Verhältnisprävention ein oder nennt gar Zahlen. Das aber ist die spannendste Frage überhaupt. Auf eine Pressenachfrage erwiderte die Sprecherin des Verkehrsunternehmens der größten deutschen Stadt „Offenbar sei es in der Vergangenheit – wenn auch nicht in Stationen der BVG – zu Unfällen gekommen.“ (Der Tagesspiegel 29.1.22009) In den Stuttgarter Nachrichten gibt es auch keinen Hinweis zu örtlichen Unfällen: „Es komme immer wieder zu schweren Unfällen, so die EU.“ (Stuttg.N. 1.1.2010) So zieht sich das durch die Medien. Auf eine Nachfrage gab der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e.V. (VDV) bekannt, dass „keine Statistik über Unfalldaten der Verkehrsunternehmen auf Rolltreppen und deren Ursachen vorliegen.“(27.1.2010). Die Zu- und Abgänge der öffentlichen Verkehrsmittel sind aber für uns das wesentliche Problem, da z.B. in Kaufhäusern in der Regel auch Fahrstühle existieren. In Berlin sind derzeit lediglich 40 % aller BVG-Stationen mit Aufzügen ausgestattet. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), der es wissen müsste und z.B. Straßenverkehrsunfälle deutlich genauer auswertet als die üblichen Unfallstatistiken, meldete: „Uns liegen keine Daten vor. Es ist also nichts an uns herangetragen worden, dass es nennenswerte Schäden gibt.“(27.1.2010)
Verbote sind nicht rechtswirksam
Die juristische Sachlage ist eindeutig: „Wer das Schild missachtet und einen Kinderwagen mitnimmt, macht sich nicht strafbar.“ (PR DIN 20.1.2010) DIN-Normen sind „private Regelwerke mit Empfehlungscharakter“ (BGH, 14.6.2007, Az.VII ZR 45/06, NJW 2007, 2983, RdNR. 37). Insofern ist es auch erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit z.B. einige Kaufhäuser reagieren, so hat z.B. das Kaufhaus Alexa am Alexanderplatz in Berlin bereits Anfang 2008 Poller vor die Rolltreppen-Eingänge installiert, wo ein Kinderwagen nicht hindurch passt. (Tsp. 29.12.2009)
Dennoch könnte die neue Norm als „Stand der Technik“ nach einem Unfall Folgen haben. „Man wird nachweisen müssen, dass der Kinderwagen nicht ursächlich war,... dann bezahlt weiterhin die Haftpflichtversicherung des Rolltreppenbetreibers. Gelingt dieser Nachweis nicht, muss man selbst bezahlen. Eventuell springt die eigene Unfallversicherung ein. Es wird spannend, wie sich das entwickelt.“ (Dr. Matthias Müller, Sprecher des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft in Berlin, Stuttg.N. 1.1.2010).
In der Tat ist zu beobachten, dass Kinderwagen mit nicht festgestellten Vorderrädern mitunter verkantet auf die Rolltreppe gebracht werden oder diese so nicht rollend verlassen können. Das wäre eine Aufgabe einer DIN-Norm, technisch dafür zu sorgen, dass dieser „materielle Gegenstand“ für z.B. die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel geeignet sein muss. Anzunehmen ist, dass in einem solchen Fall nach einem Unfall die Rolltreppenbetreiber nachgewiesen hätten, dass dieser Unfall nicht durch das System verursacht wurde, so es denn einen derartigen Unfall gegeben hätte.
Fazit
Bei einer nicht strafbaren Handlung kann man mit dem folgenden Hinweis keinen „Aufruf zu einer strafbaren Handlung“ unternehmen: Wenn Keine Rolltreppen vorhanden sind und auch helfende Hände nicht in Sicht, dann ist es unzumutbar, nicht auch mit einem Kinderwagen weiterhin Fahrtreppen zu benutzen – was man dann auch tun sollte. Natürlich ist es sinnvoll, für alle Mobilitätsbehinderten in Bahnhöfen Fahrstühle einzubauen.
Quellennachweise:
Sicherheit von Fahrtreppen und Fahrsteigen – Teil 1: Konstruktion und Einbau; Teil 2: Regeln für die Erhöhung der Sicherheit bestehender Fahrtreppen und Fahrsteige, Deutsche Fassung EN 115-1:2008; Ausgabe 2009, Deutsches Institut für Normung (Hrsg.), www.DIN.de
Die aufgeführten Regelwerke können beim Verlag http://www.beuth.de/de/regelwerke/auslegestellen zu recht hohen Kosten bestellt werden. DIN bzw. EN können Sie nicht über Ihre örtliche Bibliothek zur Ausleihe anfordern. Sie sind jedoch in ca. 100 Normenauslegestellen kostenlos einzusehen, eine Übersicht finden Sie unter http://www.din.de/de .
Dieser Artikel von Bernd Herzog-Schlagk ist in mobilogisch! , der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2010, erschienen.
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