In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Niederlanden als „Woonerf“ bezeichnete Verkehrsberuhigungsmaßnahmen sind heute als „Shared Space“ oder „Begegnungszone“ in der Diskussion. Die verschiedenen Begriffe und Regelungen verbindet, dass eine möglichst gemeinsame Nutzung des Straßenraumes und eine Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer angestrebt wird. Darüber hinaus geht es darum, dass „die hier behandelten Straßenräume […] ohne Lichtsignalanlagen und weitgehend ohne Beschilderung und Markierung auskommen“ sollten (Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf, 3).
Auf folgende Fragestellungen versuchen wir mit den wenigen bisher vorhandenen Aussagen zu diesem Thema aus den Regelwerken zu antworten. Sie müssen nicht grundsätzlich mit dem Standpunkt des FUSS e.V. übereinstimmen und nicht als ausreichend oder zielführend betrachtet werden, aber dem derzeitigen „Stand der Technik“ entsprechen:
- Widerspricht das Mischungsprinzip nicht dem Wunsch der Fußgänger nach einer Schutzzone?
- Welches Ziel verfolgt man mit der Einrichtung von Mischflächen?
- Wann ist das Mischungsprinzip sinnvoll anwendbar?
Widerspricht das Mischungsprinzip nicht dem Wunsch der Fußgänger nach einer Schutzzone?
Im Sinne der Verkehrssicherheit ist eine weitgehende Trennung des Fußgängerlängsverkehrs vom Fahrverkehr anzustreben (EFA, 1.2).
Mischungsprinzip bedeutet aber nicht zwangsläufig den höhengleichen Ausbau bzw. Verzicht auf Bordsteine. Auch Straßen mit Bordsteinen können durch geschwindigkeitsdämpfende Entwurfselemente im befahrbaren Bereich zur Mischfläche werden (RASt, 6.1.1.1), wenn sie straßenverkehrsrechtlich entsprechend beschildert werden.
Aber auch ohne Bordsteine können bestimmte Teilräume in Straßen und Plätzen mit Mischungsprinzip zugunsten des Fußverkehrs von Befahrung freigehalten werden, etwa durch Poller, Pflanzflächen etc. Obwohl dies seit September 2009 (leider!) nicht mehr ausdrücklich in der Verwaltungsvorschrift VwV-StVO steht, ist die entsprechende Ausführung weiterhin möglich.
Dabei ist zu beachten, dass die Wahrnehmung des Straßenraums durch Fußgänger sich deutlich von der der Rad- und Autofahrer unterscheidet. Außerdem besteht innerhalb der Gruppe der Fußgänger eine deutliche Heterogenität der Wahrnehmung, sowohl aufgrund Alter und motorischen sowie sensorischen Fähigkeiten, als auch aufgrund von Faktoren wie Zeitdruck, Gesundheit, Witterung oder Tageszeit (M WBF, 2.1).
Welches Ziel verfolgt man mit der Einrichtung von Mischflächen?
Bei der „gehwegfreien“ Alternative „Mischungsprinzip“ soll durch besondere Gestaltung ein niedriges Fahrzeugtempo erreicht werden, was wiederum die gemeinschaftliche Nutzung der gleichen Flächen durch Fahrzeug- und Fußverkehre ermöglichen soll (RASt, 6.1.1). Eine offenere Gestaltung des Straßenraums (Verzicht auf Hochborde, Reduzierung der Differenzierung zwischen Seitenraum und Fahrbahn, weitgehender Verzicht auf Markierungen und Beschilderung und Freihalten der Sichtbeziehungen zwischen Fuß- und Kfz-Verkehr) kann dazu führen, dass Kraftfahrzeugführer verstärkt Rücksicht gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern üben. Von einer flächenhaften Anwendung dieses Konzepts ist aber abzusehen, unter anderem, um die Besonderheit von derart gestalteten Bereichen hervorzuheben (Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf, 1).
Ein Aufenthaltsrecht für Fußgänger/innen in der Straßenmitte und die Erlaubnis, überall zu gehen und zu queren, sind aber nur bei ganz bestimmter amtlicher Beschilderung gegeben (vgl. § 25 StVO): Entweder als
- Fußgängerzone (Fußgängerbereich, Zeichen 242.1 StVO) mit Fahrzeugfreigabe oder als
- Verkehrsberuhigter Bereich (Zeichen 325.1 StVO), volkstümlich oft als „Spielstraße“ bezeichnet.
Straßen ohne die beiden vorgenannten Verkehrszeichen sind juristisch keine Mischflächen. In ihnen gelten die normalen, fahrzeugfreundlichen Standardverkehrsregeln, einschließlich des grundsätzlichen Vorrangs der Fahrzeuge gegenüber dem Fußverkehr.
Daraus ergibt sich, dass im Sinne der Aufenthaltsfunktion von Seitenräumen an und der Überquerungsmöglichkeit von Hauptverkehrsstraßen „weder der Eindruck erweckt werden darf, die geltenden Verkehrsregeln seien aufgehoben, noch das Mischungsprinzip gemäß Zeichen 325/326 StVO auf Hauptverkehrsstraßen übertragen werden darf.“ (Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf, 1)
Wann ist das Mischungsprinzip sinnvoll anwendbar?
Neue Mischflächen dürfen nur bei Straßen mit „geringem Verkehr“ (EFA, 3.1.1; RIN, 5.5) eingesetzt werden, bei bereichsweiser Anwendung sogar nur bei „sehr geringem Verkehr“ (VwV-StVO zu Zeichen 325.1 und 325.2; seit 1.9.2009), dies sind „Verkehrsstärken unter 400 Kfz/h“ bzw. etwa 4.000 Kfz/Tag (RASt, 5.1.2). Dieser Entwurfsgrundsatz“ gilt auch für Fälle „weicher Separation“, also gestalterische Zwischenformen zwischen Misch- und Trennprinzip.
Dagegen sind „an angebauten Straßen […] Anlagen für den Fußgängerverkehr überall erforderlich. [...] Ausnahmen können Wohnstraßen mit einer sehr geringen Verkehrsstärke sein“ (EFA, 3.1.1), dabei bedeutet „sehr geringe Verkehrsstärke“ hier bis zu 500 Kfz/24h (EFA, 3.1.2.3).
„Wichtige verkehrliche Voraussetzungen für die Ausbildung von Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf sind
- ein hohes Aufkommen im nicht-motorisierten Verkehr,
- Kfz-Verkehrsstärken, die nicht im Grenzbereich einer zweistreifigen Straße liegen und
- ein nicht zu hohes Lkw-Verkehrsaufkommen.
Der Fußgänger- oder Radverkehr sollte das Straßenbild bestimmen oder zumindest überdurchschnittlich prägen.“ Dabei sind Räume mit flächiger Ausdehnung besser geeignet als lineare Räume. Eine Verlagerung des ruhenden Pkw-Verkehrs aus dem betreffenden Bereich ist im Sinne der Verbesserung der Sichtbeziehungen anzustreben (Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf, 3).
Wesentlich ist auch hier die Schaffung sozialer Sicherheit durch Beleuchtung, gute Einsehbarkeit und Umfeldnutzungen, die eine soziale Kontrolle ermöglichen. Nischen und tote Winkel sollten vermieden werden (EFA, 1.2).
Eine Übersicht über die für den Fußverkehr relevanten Planungsgrundlagen und weitergehende Hinweise finden Sie im Literatur-Register. Die genauen Bezeichnungen der in diesem Abschnitt verwendeten Planungsgrundlagen entnehmen Sie bitte in kompakter Form den Quellenangaben unten auf dieser Seite. Die Links im Text oben führen Sie dagegen zum Literatur-Register, da dort bei manchen Regelwerken zusätzlich weiterführende Literatur genannt wird. Aussagen aus den Regelwerken zu den Themen Gemeinsame oder getrennte Fuß- und Radwege und Radverkehr in Fußgängerbereichen werden an anderer Stelle behandelt.
Über die Planungsgrundlagen hinausgehende Informationen finden Sie unter www.strassen-fuer-alle.de sowie in der entsprechenden Themengruppe Aspekte der Stadtplanung und Planungsbeispiele auf unserer Website www.fuss-ev.de.
Informationen über die rechtlichen Regelungen auf Mischflächen finden Sie unter www.strassen-fuer-alle.de > Vergleich > Tabelle.
Regelwerke
EFA - Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.): Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen EFA, Ausgabe 2002
Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.): Hinweise zu Straßenräumen mit besonderem Überquerungsbedarf – Anwendungsmöglichkeiten des „Shared Space“-Gedankens, Ausgabe 2011
M WBF - Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.): Merkblatt zur wegweisenden Beschilderung für den Fußgängerverkehr M WBF, Ausgabe 2007
RASt - Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen FGSV (Hrsg.): Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen RASt 06, Ausgabe 2006
StVO - Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur BMVI (Hrsg.): Straßenverkehrs-Ordnung StVO, in der Fassung vom 6. März 2013
VwV-StVO - Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur BMVI (Hrsg.): Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) in der Fassung vom 17. Juli 2009